Das diesjährige Kongressplakat des 35. Kunsthistorikertages zierte ein viel umrätseltes Objekt. Von einer virtuosen Keramikarbeit, einem fossilen Steinfund bis hin zu einem dekorativen Friesfragment wurden die unterschiedlichsten Vermutungen angestellt und formuliert. Auch ich fragte mich zu Beginn der Kongresswoche, was dieses muschelförmige Objekt auf dem Kongressplakat verkörpere? Welchem Kontext entstammt es? Haben wir es mit einem „Naturding“ oder einem „Kulturding“ zu tun?
Während meines Besuches der Göttinger Universitätssammlung entdeckte ich zufällig im Eingangsbereich der Ausstellungsräume eine kleine Vitrine, in der sich das Muschelobjekt des Kongressplakats befand. Von der Mitarbeiterin an der Museumskasse erfuhr ich, dass es an diesem präsenten Ort platziert wurde, damit es während der Kongresswoche von den Teilnehmer*innen bestaunt werden könne. Dem Text unterhalb der Vitrine konnte ich entnehmen, dass es sich bei dem „Ding“ (Datierung: 1876) um das Werk des Dreikantwurmes (lat. Spirobranchus triqueter) handelt, ein Röhrenwurm aus der Gruppe der Vielborstenwürmer. Manche seiner Arten leben frei, andere halten sich, wie in diesem Falle, ständig in Röhrchen auf und sitzen einem Hartsubstrat, hier einer Kammmuschel, auf. Die virtuos gestalteten Röhrchen entstehen durch Schleimsekrete und Kalkabscheidungen verschiedener Drüsenkomplexe des Wurmes. Das Muster aus Kalkröhrchen bildet sich durch die Besiedlung einer großen Anzahl von Wurmindividuen auf der Muschelschale. Verbreitet ist der Dreikantwurm im Atlantik, dem Mittelmeer, in der Nordsee sowie in der westlichen Ostsee. Dieses Exemplar, so konnte ich der Tafel entnehmen, stamme aus der Nordsee.
Am Donnerstagabend wurde das Rätsel offiziell gelöst. Im Rahmen der Podiumsdiskussion im großen Hörsaal der Universität – an der unter anderem Martin Eberle, Hans-Jörg Rheinberger, Margarethe Vöhringer und der aus New York stammende Keynote-Vortragende Ivan Gaskell teilnahmen – erhielt das Publikum einige Hintergrundinformationen zu dem „Ding“ des Kongressplakats. Die Moderatorin Julia Voss leitete die Diskussion mit der Frage ein, wie sich der Bezug zwischen der auf dem Plakat abgebildeten Muschel und dem Thema des Kongresses "Zu den Dingen!" beschreiben ließe. Ist es ein Kultur- oder ein Naturding? Könne es einer naturhistorischen oder einer Kultursammlung zugeordnet werden?
Margarete Vöhringer, die die Professur für Materialität des Wissens des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Göttingen inne hat, erklärte darauf hin, dass sich dieses muschelartige Objekt, aus der Sammlung des Akademischen Museums Göttingen, als "natürliches Ding" identifizieren lässt. Es gelangte auf bisher unbekanntem Wege in die Göttinger Universitätssammlung und wurde aufgrund seiner Form-Ambiguität als Motiv des diesjährigen Kunsthistorikertages ausgewählt. In Bezug auf die Theorien Hans-Jörg Rheinbergers, der sich in seiner Forschung immer wieder auf den amerikanischen Kunsthistoriker George Kubler und seine Definition der „Dinge“ bezieht, stellte sich anschließend die Frage, ob sich diese Kammmuschel als „epistemisches Ding“ charakterisieren ließe. In seinen Schriften (u.a. „Experimentalsysteme und epistemische Dinge – Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas“, 2001) beschreibt Hans-Jörg Rheinberger „epistemische Dinge“ zunächst durch ein gewisses Maß an Unbestimmtheit, was sie als Erkenntnisgegenstände interessant macht:
„Es ist genau diese Unbestimmtheit, die sie überhaupt zu epistemischen Dingen werden lässt, das heißt zu jenen Dingen, über die neues, also noch nicht verfügbares Wissen im Experimentierprozess eingeholt werden soll. Sie verkörpern somit das Neue, noch Ungewusste an der Grenze vom Wissen zum Nichtwissen.“ (Rheinberger, 2015: 73)
Sie regen durch ihre Unbestimmtheit zur Erforschung an, so Rheinberger. Man könne sie jedoch nie in Gänze beherrschen. Des Weiteren lassen sie sich von sogenannten „technologischen Objekten“ mit einer charakteristischen Bestimmtheit differenzieren, wobei sich die Grenzen zwischen „epistemischen Dingen“ und „technologischen Objekten“ in Experimentalsystemen dennoch als fließend beschreiben lassen. Handelt es sich also im Falle der Kammmuschel, in Hinblick auf ihren zunächst unbestimmt anmutenden Status und ihr Changieren zwischen Natur- und Kulturvorstellungen, um ein „epistemisches Ding“? Wurde es ausgestellt um Wissen zu vermitteln? Lässt sich der Röhrenwurm als aktiver Gestalter dieses „Dinges“ und somit als Künstler dieses Werkes bezeichnen?
Diese Fragen verblieben im Verlauf der Podiumsdiskussion weitestgehend offen. Sowie die Frage nach der Abgrenzung der Terminologien „Ding“, „Objekt“, „Artefakt“ und „Kunstwerk“. Sie erfährt, so zeigte die anschließende Diskussion, in den verschiedenen beruflichen Kontexten eine unterschiedliche Handhabung in der alltäglichen Praxis. Hans-Jörg Rheinberger verweist vor diesem Hintergrund unter anderem auf die Kategorie des „Kunstwerkes“ als rein westliches Konstrukt. Martin Eberle berichtet aus dem musealen Kontext von einer Vorrangstellung des Objekt-Begriffes, „Dinge“ würden in außeruniversitären Bezugsrahmen keine große Rolle spielen.
Das weite und divers auszulegende Feld der „Dinge“ wird im Rahmen dieser Abendveranstaltung mehr als deutlich. Die damit verbundenen Diskussionen, so könnte man subsumieren, finden ihre Materialisierung im Motiv des vom Dreikantwurm transformierten Erscheinungsbildes der Kammmuschel. Das durch seine Ambiguität immer wieder als Referenz auftauchende „Ding“, gelangte auch in den verschiedenen Diskussionen der Sektionen immer wieder an die Oberfläche und entpuppte sich als rahmender, fein gesponnener roter Faden des 35. Kunsthistorikertages.
Zuletzt möchte ich mich noch herzlich bei der Gerda Henkel Stiftung bedanken, für die großartige Möglichkeit als Stipendiatin am diesjährigen Kunsthistorikertag teilzunehmen und für die erkenntnisreiche Zeit in Göttingen, die ich sehr genossen habe.
Als kleine Fußnote: Auch ich würde mich freuen beim nächsten Mal den KunsthistorikerINNENtag zu besuchen.
Literatur:
Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, in: Gamm, Gerhard (Hg.); Gehring, Petra (Hg.); Hubig, Christoph (Hg.) u.a.: Jahrbuch, Technikphilosophie 2015, Ding und System, Zürich/Berlin 2015. S. 71-79.