„Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegraben; unsere glorreichen Nationen haben sich kraft ihres Monopols in Wissenschaft und Archäologie des Universellen bemächtigt und mit diesem Raub den kolonisierten Völkern eine Vergangenheit entwendet, die deshalb von ihnen leicht als ortsfremd erlebt wird. Die hirnlosen islamistischen Zerstörer steuern die Abrissbagger in den antiken Stätten umso leichter, als sich ihre abgrundtiefe, ahnungslose Dummheit mit dem mehr oder weniger diffusen Gefühl verbindet, es handele sich bei diesem Kulturerbe um eine seltsame rückwirkende Emanation einer fremden Macht."
- Mathias Énard, Kompass
Dieses Zitat aus Mathias Énards Roman “Kompass” (2016) führte der deutsche Archäologe Andreas Schmidt-Colinet in einem Gespräch mit Andrea Zederbauer an, um seine Haltung gegenüber der von Horst Bredekamp geäußerten Forderung einer „kämpferischen Rekonstruktion” zu veranschaulichen. Diese zentrale Forderung aus seinem Buch „Das Beispiel Palmyra” (2016) machte Bredekamp auf dem 35. Deutschen KunsthistorikerInnentag erneut stark. Dieser fand unter dem Motto “Zu den Dingen” Ende März in Göttingen statt. Die von Bredekamp geleitete Sektion „Material Agencies” schloss mit der Vorstellung der von ihm betreuten Dissertation Leva Kochs’ zur „Menschenrechtlichen Dimension ikonoklastischer Objektzerstörung". Da Kochs krankheitsbedingt fehlte, verlas und kommentierte Bredekamp ihren Vortrag.
Der Text leitet ein Urteil bildtheoretisch her, welches am Obersten Gerichtshof in Den Haag gefällt wurde. 2016 wurde ein Anführer der mit Al Qaida verbündeten Rebellengruppe Ansar Dine zum Kriegsverbrecher verurteilt, weil er die Zerstörung historischer Mausoleen in Timbuktu, Mali, veranlasst hatte. Dass die Zerstörung von Kulturgut als Kriegsverbrechen gilt, ist neu und laut Kochs zu deuten als eine richtige Folge von einer Übersetzung ikonoklastischer Theorien in den Bereich des Rechts. Sie beruft sich dabei auf Bredekamps Theorie des synthetischen Bildaktes, der beschreibt, wie die Zerstörung von Bildern - im weitesten Sinne verstanden als vom Menschen Gestaltetes - stellvertretend auch Menschen oder Gemeinschaften zerstört oder beschädigt. Michelangelos David, die neue republikanische Freiheit verkörpernd und das Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan, Anatomie des neuzeitlichen Staates, waren die Beispiele, anhand derer Kochs zeigt: Kunstwerke sind keine reine Illustration sozialer oder politischer Ideen, sondern formen sie aktiv mit. Dies sei von dem sogenannten Islamischen Staat in Palmyra, von der Taliban in Bamiyan und Ansar Dine in Timbuktu ganz bewusst genutzt worden. Mit solchen Taten versuchten die Terrorgruppen, an Kulturgütern sich manifestierende Identitätsstiftung der Menschheitsgeschichte zu negieren und stattdessen einen apokalyptischen Jetztzustand zu kreieren. Dieser Verlust von an Kultur manifestierter Identität habe bei den Menschen ein Trauma zur Folge. Indem das Gericht in Den Haag entschied, dass auch die Zerstörung von Kulturgütern ein Kriegsverbrechen sei, rücke es die Objekte näher in eine Sphäre des Menschenrechts. Ihrer stellvertretende Rolle für eine universelle Gemeinschaft, Geschichte und Kultur würde so Rechnung getragen, weil sie als rechtliche „Persona” und nicht nur als „Ding” gelten würden. Das internationale Kulturgüterschutzgesetz müsse in diese Richtung aktualisiert werden, um den aktuellen terroristischen Aktionen nicht „wehrlos” gegenüber zu stehen. Das erklärte Ziel dieser Forschung zwischen Kunstgeschichte und Recht sei es „die aktive Rolle von Bildern durch die Zuerkennung einer menschenrechtlichen Dimension auch im Rechtsraum zu verankern”.
Den Dingen Menschenrechte geben? Der Zerstörung von Kulturgut nicht „wehrlos” gegenüber stehen? Gleichwohl ein traumatischer Effekt dieser Zerstörungen nicht abgestritten werden kann, scheinen in dieser Argumentation einige Reflexionen zu kurz zu kommen. Die aktive Rolle der Bilder in der Erhaltung sozialer Funktionen wurde lediglich anhand europäischer Beispiele aufgezeigt. Diese eurozentristische Herleitung eines Rechtes, das im Endeffekt für die ganze Welt gelten soll, ist problematisch, weil sie eine Deutungshoheit manifestiert und zugleich eine Dominanz über die Entscheidung, was in dieser Welt als „Kulturerbe” gilt und was nicht, welche Stätten, Menschen, Monumente, Objekte als schützens- und verteidigenswert gelten und welche nicht. Doch woher kommt diese Dominanz? Nicht etwa von einem imperialistischen Umgang mit anderen Kulturen, ja auch der Misshandlung der Geschichte anderer Kulturen, um diese in unseren Museen als reinen Besitz, seiner ursprünglichen sozialen Funktion beraubt, auszustellen? Es leben viele Gemeinschaften in Trauer seit ihnen für sie zentrale Andachtsobjekte gestohlen und andere schlicht zerstört und verbrannt wurden. Wenn nun von dieser (ehemals?) imperialistischen und kolonialistischen Kultur gefordert wird, dass der Zerstörung von „Weltkuturerbe” vehementer begegnet werden soll, liegt es nah, sich zu fragen, was für diese Kultur hier wirklich auf dem Spiel steht. Ist es das Wohl der Menschen oder die eingangs zitierte „rückwirkende Emanation einer [fremden] Macht”? Als Interpretation des Den Haager Timbuktu-Urteils ist Leva Kochs’ Beitrag mit Berufung auf Bredekamps Bildakt-Theorie durchaus erhellend. Doch von hier aus weitere rechtliche Forderungen zu stellen, scheint fragwürdig.