Autorin: Angela Siebold, Universität Heidelberg
Die zahlreichen wissenschaftlichen Veranstaltungen und Publikationen, die sich in diesem Jahr mit dem Thema des 20-jährigen Jubiläums des Mauerfalls und der Systemumbrüche in Mittel- und Osteuropa auseinandersetzen, beleuchten verschiedene Aspekte der Erforschung dieses Umbruchjahres. Dennoch bleiben einige Fragen im wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema offen, die hier kurz ausgeführt und zur Diskussion gestellt werden sollen.
Den folgenden vier Überlegungen liegt die Beobachtung zu Grunde, dass in der momentanen Diskussion folgende Aspekte eine zentrale Rolle einnehmen: Erstens dominiert die Frage, wie es zum Zusammenbruch des Kommunismus kommen konnte und welche Faktoren entscheidend dazu beigetragen haben. Der zweite Komplex beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage, weshalb die alten Regimeeliten den Untergang des eigenen Systems nicht gewaltsam verhinderten. In Anlehnung an den in diesem Jahr geschichtspolitisch etablierten Begriffs der „friedlichen Revolution“ lassen sich diese Fragen für die ehemalige DDR folgendermaßen zusammenfassen: Warum kam es zu einer Revolution? Warum verlief sie friedlich?
I. Wo bleibt die Geschichtswissenschaft?
Auffällig ist zunächst, dass diese Fragen, die sich also mit den Ursachen, dem Verlauf und dem spezifischen Charakter der Umbrüche um das Jahr 1989 beschäftigen, hauptsächlich von Sozialwissenschaftlern, zumindest aber überwiegend mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden bearbeitet werden. Dabei wird häufig die Frage nach den entscheidenden Faktoren und deren Zusammenspiel diskutiert, die zum Systemumbruch geführt haben – seien es Akteure, wie etwa die oppositionelle Bewegung, Strukturen, wie zum Beispiel die marode oder sich selbst blockierende alte Regimestruktur, seien es Institutionen wie etwa die Kirche oder auch kontingente Ereignisse, die ausschlaggebend gewesen sind.
Aus bisherigem Mangel an fundierten zeithistorischen Analysen greift selbst die Geschichtswissenschaft vereinzelt auf die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Transitionsforschung zurück. Dementsprechend weist die Forschung aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zwei Probleme auf: Entweder fokussiert sie auf einen Zeitraum von wenigen Jahren. In vielerlei Hinsicht genügt eine solche Untersuchung jedoch nicht. Am Beispiel Polens zeigt sich besonders deutlich, wie wichtig es ist, die Zeit der Solidarność zu berücksichtigen und mindestens die 1980er Jahre vollständig einzubeziehen. Auch die DDR betreffend wäre es häufig zielführender, früher als etwa bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 mit der Analyse zu beginnen. Für den Fall, dass eine historische Perspektive eingenommen wird, dient diese zweitens als sozialwissenschaftlich verstandene Pfadabhängigkeit im Sinne einer Vorlaufzeit, um das nachfolgende Ereignis mit erklären zu können. Hier sehe ich einen Bedarf an einer verstärkten spezifisch historischen Perspektive, die nicht nur die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen am Ende der 1980er Jahre in den Blick nimmt, sondern auch nach langfristigen Brüchen und Kontinuitäten fragt.
II. 1989 – und danach?
Dasselbe Problem gilt für die Frage nach historischen Wirkungszusammenhängen und den Folgen, die das Jahr 1989 mit sich gebracht haben könnte. Häufig werden, trotz zahlreicher alternativer Ansätze, kurzfristige Zäsuren gesetzt und die frühen 1990er Jahre als „Endpunkt“ der Untersuchung gesetzt. Zahlreiche Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen, wie etwa der Erinnerungskultur (historische Abgrenzung zum alten Regime und Legitimation der neuen Herrschaftsverhältnisse, die Diskussion „weißer Flecken“ und bisheriger historischer Tabuthemen), der Ökonomie (Privatisierung, Korruption, Arbeitsmarkt) oder auch der politischen Kultur (Vertrauen in das neue politische System, Demokratisierung der Gesellschaft) zeigen jedoch deutlich auf, dass die Tragweite dieser Umbruchjahre bis heute und über das Jahr 2009 nachwirkt. Die Ereignisse des Jahres 1989 in ihrer Bedeutung für langfristige Kontinuitäten oder Transformationsprozesse zu betrachten, also nicht zuletzt auch den Zäsurcharakter des Jahres 1989 kritisch zu diskutieren, erscheint mir deshalb nicht nur als notwendiges, sondern auch als besonders lohnenswertes Ziel. In Anlehnung an Foucault ließe sich hierbei herausstellen, dass, um ein historisches Phänomen begreifen zu können, niemals die Hochphase dieses Phänomens, sondern gerade seine Krisenzeiten aussagekräftig sind. Sich auf eine Analyse der Vorgeschichte des Jahres 1989 zu beschränken und damit dieser Zäsur ein zu großes analytisches Gewicht zu verleihen, bedeutete demnach, auf Erkenntnisgewinne sowohl bezüglich des alten Regimes als auch der neuen Verhältnisse zu verzichten. Dies wird zum Beispiel bei der Überlegung deutlich, was wir aus den Diskussionen um den Mauerfall in diesem Jubiläumsjahr 2009 über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat in der DDR oder über das bundesrepublikanische Selbstverständnis vor und nach 1989 erfahren können.
III. Die geografischen und nationalen Grenzen der Forschung
Neben der zeitlichen Eingrenzung des Themas sind starke geografische Grenzziehungen in zweierlei Hinsicht zu vermerken:
Erstens werden beinahe ausschließlich diejenigen Länder in die Untersuchungen mit einbezogen, welche von einer direkten politischen Transition betroffen waren, also die ehemalige DDR und die Staaten Mittel- und Osteuropas. Eine Berücksichtigung anderer geografischer Räume, wie zum Beispiel Westeuropa, das „nur“ indirekte Wirkungen der Systemumbrüche erfuhr, könnte nicht nur weitere Antworten in Bezug auf die gesamteuropäische Bedeutung der Umbruchjahre 1989/90 geben, sondern überhaupt neue Fragestellungen zulassen. Nicht zuletzt legt die als global beschriebene Bedeutung des Kalten Krieges nahe, auch das Ende ebendieses Konflikts in einem globalen Kontext zu untersuchen.
Zweitens finden sich innerhalb des analysierten geografischen Rahmens fast ausschließlich Länderstudien, welche mehr oder weniger isoliert auf die Ursachen und den Verlauf der Umbruchjahre eines Nationalstaates eingehen. Dabei werden aber einerseits Entwicklungen auf transnationaler Ebene vernachlässigt; andererseits wird darauf verzichtet, behandelte Themen als Nationen übergreifende Phänomene in den Blick zu nehmen.
IV. Wissenschaftler, Zeitzeuge oder Politiker?
Ein weiteres Problem, das schwierig zu lösen ist, aber dennoch thematisiert werden sollte, bildet schließlich die kurze zeitliche Distanz zu den untersuchten Ereignissen. Selten zeigen sich bei der Diskussion historischer Phänomene so deutlich Überschneidungen der Sprechakte von Wissenschaftlern, Politikern und Zeitzeugen. Deren häufigem Aufeinandertreffen, etwa in Beiräten oder bei Podiumsdiskussionen, aber auch die Verkörperung mehrerer Rollen durch eine Person sollte besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität entgegen gebracht werden. Gerade die Bereiche Wissenschaft und Politik, die immanent unterschiedlichen Kommunikationsmustern und -logiken folgen, verlieren hier häufig ihre Trennschärfe. Zeitzeugenschaft und politische Überzeugungen können zwar in der Motivation, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, eine Rolle spielen, sie sollten aus der wissenschaftlichen Analyse jedoch herausgehalten oder zumindest kritisch reflektiert werden. Für die Politik stellt sich das Problem weniger, da die Zeitzeugenschaft in der Politik hauptsächlich eine instrumentelle, legitimatorische Funktion erfüllt, indem eine Art biografisch gestützte Geschichtspolitik betrieben wird.