Staatlichkeit in Afrika wird nach wie vor oft als ein Phänomen betrachtet, das erst mit der kolonialen Eroberung des Kontinents durch Europäer einsetzte und im Zuge der anschließenden Dekolonisationswelle ihren Abschluss fand. Tatsächlich blickt Afrika auf eine viel längere Tradition der Staatlichkeit zurück, bei der insbesondere der Islam eine entscheidende Rolle im sogenannten Sahel gespielt hat, also in den Territorien entlang der Südgrenze der Sahara. Die Historikerin Stephanie Zehnle von der Universität Kassel konzentriert sich in ihrer Dissertation dabei auf die Staaten im zentralen Sahel und untersucht, welche Merkmalen staatliche Zugehörigkeit im vorkolonialen Afrika ausmachten. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Islamisierung als kulturelle Komponente von staatlicher Zugehörigkeit"
L.I.S.A.: Frau Zehnle, Sie promovieren innerhalb eines Forschungsprojekts zur Geschichte Afrikas, genauer zur vorkolonialen Zeit im westlichen und mittleren Sahel, einer Region also, die allgemein zu Westafrika gerechnet wird. Die Kenntnisse über das vorkoloniale Afrika sind der Regel eher gering und oft sehr simpel: Afrika, ein Kontinent von vielen kleinen Stämmen. Tatsächlich kann Afrika auf eine historische Staatenwelt zurückblicken. Wie sah sie in der von Ihnen erforschten Region aus?
Zehnle: Der Sahel, also die Zone der Trockensavanne am südlichen Rand der Sahara, war lange vor der Kolonialisierung von Prozessen der Staatenbildung betroffen. Diese Staaten waren seit dem 9. Jahrhundert auch von islamischer Religion und islamischem Recht beeinflusst. Es gab große Reiche mit den heute missverständlichen Namen Ghana, Mali und Songhay. Ansonsten bestand die Region zu großen Teilen aus Stadtstaaten. Im 18. und 19. Jahrhundert griffen viele religiöse Bewegungen dieses historische Erbe wieder auf und gründeten neue Territorialstaaten, in die verschiedene Städte integriert wurden.
Definiert wurde Staatlichkeit in diesen vorkolonialen Regionen vor allem durch die Erhebung und Durchsetzung von Abgaben an einen Palast. Diese wurden oft jährlich in Form von Arbeitskraft oder Sklaven geleistet. Mich interessiert aber vor allem, wie durch die Islamisierung eine umfassende kulturelle Komponente zum Wesensmerkmal von staatlicher Zugehörigkeit wurde. Zuvor bezogen Herkunftsmythen nach einem monarchistischen Prinzip nur die Ursprungsregion einer Herrscherdynastie ein. Durch islamische Bewegungen um 1800 wurden dann aber verwandtschaftliche Linien aller Angehörigen eines Staates betrachtet. Er wurden ethnische und mitunter auch rassistische Kategorien für verschiedene Gruppen entwickelt. Während zuvor Ethnizität nicht zwingend mit Staatsgrenzen kompatibel sein mussten, setzte sich nun die Auffassung durch, dass man gemeinsame Vorfahren aus Arabien und ein gemeinsames Wertesystem besitzen müsse, um als staatliche Gemeinschaft zu funktionieren. Man könnte also sagen, dass die Islamisierungswelle überhaupt erst eine biologisch-genealogische Idee von „Stamm“ im Sinne gemeinsamer Abstammung in die Region gebracht hat. Diese Konzepte waren zumindest in Westafrika vorher keinesfalls staatlich verankert und überhaupt nicht genuin afrikanisch – was auch immer man darunter verstehen würde. Viel eher beziehen sie sich auf Vorstellungen von Stammeszugehörigkeit aus dem Nahen Osten und der Arabischen Halbinsel.
Auch ansonsten war es eine Phase staatlicher Zentralisierung. So wollte der Staat nun auch soziale und wirtschaftliche Aufgaben übernehmen und kontrollieren, die zuvor Dörfern, Großfamilien oder Berufsgilden überlassen waren. Dabei bezog man sich auf die großen Reiche der westafrikanischen Geschichte, auf Byzanz sowie islamische Kalifate der Vergangenheit. Diplomatische Beziehungen wurden über viel größere Distanzen hinweg organisiert, weil Fernhandelsrouten ausgebaut wurden und arabische Schriftlichkeit sich ausbreitete. Staatlichkeit wurde in Westafrika in den hundert Jahren vor der europäischen Kolonialisierung ab den 1880er Jahren also völlig neu definiert.