Die eigentümliche Inversion des Pietà-Motivs mit seiner makabren voyeuristischen Ausbeutung der weibliche Leiche ist der zentrale Sexismus des TV-Krimis
Dafür ist etwas anderes zur herkömmliche Pietà hinzugekommen. Durch die partielle Entkleidung des weiblichen Opfers wird der Blick fast zwangsläufig erotisch aufgeladen, und gewollt oder ungewollt, voyeuristisch. Da - im Krimi vom Typ A - die Person des Opfers keine oder nur eine geringe Rolle mehr spielt, wird das Leid des Opfers gleichsam aufgesogen in die Geschäftigkeit und Details der Medizin und der Kriminalistik (leider auch in banalen Mätzchen der Regie).
Die eigentümliche Inversion des Pietà-Motivs mit seiner makabren voyeuristischen Ausbeutung der weibliche Leiche ist der zentrale Sexismus des TV-Krimis. Das dies kaum thematisiert wird, obwohl es nicht nur ein Geschlechterproblem, sondern auch ein ästhetisches Problem ist, liegt auch an der chronisch defizitären Krimi-Berichterstattung, die sich weitgehend der allgemeinen Regression der Populärkunst angepasst hat. Gerade im Krimi zeigt sich immer mehr die Verkürzung der szenischen Sequenzen auf das Niveau von SMS-Botschaften, die Entwertung sinnhafter Zusammenhänge durch inhaltlich und akustisch defizitäre Sprache und die Ignorierung logischer Konsistenz (wie sie etwa den klassischen Kriminalroman auszeichnete). Auch die inhaltliche Irrelevanz hektischer Spurensuche und "Action" ist Zeichen dieser Regression (etwa das obligate Klischee der Verfolgungsjagd eines falschen Tatverdächtigen). Mit der postmodernen Version des "Erhabenen" (Kant), das heißt dem schockhaften Einbruch des Elementaren und Unerwartetem ins Kunstwerk, hat dies nichts zu tun. Gerade dieser Einbruch erfordert mehr und besondere geistig-ästhetische Reflexion und Durchdringung des Sujets, nicht weniger. David Lynch ist dies ansatzweise gelungen.
Die überwiegende Mehrzahl der Krimi-Rezensionen kommt über das Referieren der Handlung, das Lob der Schauspieler und dem gelegentlichen Nachweis logischer Ungereimtheiten nicht hinaus. Ihre Banauserie nähert sich derjenigen der Drehbücher an. Da nicht absehbar ist, dass sich dies bald ändert, ist meine Empfehlung an Zuschauer: Besonders wenn ein Krimi mit einer weiblichen Leiche beginnt, schalten Sie aus, Sie vergeuden Ihre Lebenszeit. Wenn Sie eine Mediathek besitzen, suchen Sie einen Kriminalfilm von Pierre Melville. Wenn es etwas schlichter sein darf, einen Wallander oder einen der wenigen guten Tatort-Folgen wie zum Beispiel "Im Schmerz geboren" (mit U. Tukur und U. Matthes), in dem es bezeichnenderweise auch kein weibliches Mordopfer gibt. Leider sind die Krimis von Howard Hawks offenbar aus unerfindlichen Gründen irgendwo im digitalen Nirwana verschwunden.
Dieser Kritik könnte entgegengehalten werden, dass schließlich dem Opfer Gerechtigkeit widerfahre, indem der Täter gefasst und zumeist auch verurteilt wird. Dies wäre freilich nur ein halbe Gerechtigkeit und schon gar keine Versöhnung wie im theologischen Vorbild, soweit dies ästhetisch überhaupt möglich ist. Die Ermittlung und Verurteilung des Täters ist zwiespältig: Sie erweckt die trügerische Vorstellung von Gerechtigkeit, während die ungerechten Verhältnisse unangetastet bleiben. Dem Krimi ist somit die Gefahr immanent, affirmativ zu werden.
Gerechtigkeit für das Opfer wäre, wenn sein Leiden, seine Passion und die gesellschaftliche Objektivität des Leidens, somit auch seine Ursachen, gezeigt werden, wenn auf diese Weise das Opfer nicht nur scheinhaft zu Wort käme, das heißt, wenn der Schein mehr wäre als bloßer Schein. Die Positivität der "irdischen" Gerechtigkeit ist ein Irrweg, da gerade sie häufig die Ursache neuer Irrtümer und Ungerechtigkeiten ist. Gerechtigkeit gegenüber aktuellen und vergangenen Opfern und ihrem Leid (eigentlich allem Leid) ist Adorno zufolge das oberste Wort, das Kunst und Philosophie finden kann, Grundlage ihrer Wahrheit, nämlich Leiden "beredt" zu machen. Da Leid und Schmerz auch Thema des Krimis sind, ist dieser mehr als nur ein abgelegenes Feuilleton-Thema, sondern zugleich genuiner Gegenstand philosophischer Reflexion.
Der Autor wird sich in unregelmäßigen Abständen in einer Kolumne zu TV-Krimis und –Serien zu Wort melde.