Dr. Radke: Wie würden Sie das Menschenbild der Renaissance beschreiben?
Prof. Röck: Zunächst einmal muss man sagen, dass die Renaissancemenschen anders waren, als es ein populäres Bild suggeriert. Sie waren fast alle zutiefst gläubige Christen. Sie finden fast keine Atheisten oder auch nur große Skeptiker unter ihnen. Vielleicht war einer der wirklich „Gottlosen“ Machiavelli, vielleicht auch Leonardo da Vinci. Aber dann wird die Suche schon schwierig. Das vorausgeschickt, findet sich allmählich die Vorstellung vom Menschen nicht mehr nur als zerknirschtem Erdenwurm, als künftigen Madensack und als Trauergestalt, die durch ein Jammertal streift, um bald dann wieder zu sterben. Das gibt es auch, aber es ist nicht mehr dominierend. Es gibt dagegen etwa Pico della Mirandola, der sinngemäß einen sehr richtigen Satz sagt: "Du Adam hast die Möglichkeit, aufzusteigen zu Gott oder herabzusinken zum Tier. Die Alternative liegt in Dir. Das ist Dir gegeben." Er fährt dann aber fort - das wird seltener zitiert -, dass das Ziel allen Strebens eigentlich sein müsse, ein „seraphisches“, engelhaftes Leben zu führen, was dann doch wieder traditioneller klingt. Sie haben allein durch die Schriften, die um das Hauswesen und um die Gestalt des Höflings kreisen, im berühmten Cortegiano Castiligliones oder bei Machiavelli, eine breite, sehr vielfältige Sicht auf den Menschen. Der Cortegiano, wie ihn Castiglione gibt, ist so eine Mischung, salopp gesagt, aus Barack Obama und George Clooney. Er ist lässig, aber nicht herablassend. Er ist cool, aber nicht kalt. Er ist gelehrt, aber er schwitzt nicht. Er ist gebildet und funkelt, und so weiter. Ein Idealbild des Menschen also, das im Mittelalter in dieser Form allenfalls in kleinen Bruchstücken vorkam. Machiavelli dagegen sieht den Menschen als abgrundtief schlecht. Und vielleicht ist es ja nicht ganz falsch, zunächst einmal von einer negativen Menschennatur auszugehen und nicht zu erwarten, dass man auf ein Lamm oder eine Figur der Bergpredigt trifft. Das ist die Spannweite, in der wir uns da befinden. Aber ich glaube, diese vielen Perspektiven, die der Vielfalt des Menschlichen und dem Individuellen gerecht werden, ist neu und spezifisch für die Zeit, grob gesagt, im späten 15. Jahrhundert.
Dr. Radke: Und heute? Was lehrt uns eine Beschäftigung mit der Renaissance heute?
Prof. Röck: Zunächst ist sie eine Hinterlassenschaft, die zunächst einmal einfach da ist. Man kann sie gut oder schlecht finden. Wenn Sie Handys und Navis gut finden - sie hätten Sie nicht ohne Kopernikus und Galilei und Newton, ohne die vorbereitende Arbeit der großen Zerstörer der alten Weltbilder. Die Renaissance gibt uns wunderschöne Kunst, die wir bewundern, die uns zauberhafte Geschichten erzählt. Sie hinterlässt Architektur, bis hin zum Kapitol in Washington, das man schön finden mag oder nicht. Sie hinterlässt uns Formen, Gedichte, Texte, Musik; ist die erste Epoche der Musik, die noch zu uns herüberklingt - denken Sie etwa an die Lieder Heinrich VIII., an die Kompositionen Monteverdis oder John Dowlands. Diese ganzen Dinge hinterlässt sie uns. Sie hinterlässt uns als Bürde den Aufbruch in die Welt. Das war einfach so. Mit furchtbaren Konsequenzen für die Betroffenen. Auch mit ein paar guten Folgen, natürlich. Und sie hinterlässt uns, denke ich, wenn man die Besten anschaut - also Montaigne zum Beispiel und ein paar Andere - diesen skeptischen Geist, der nichts Absolutes will, der also relativistisch ist, im besten Sinne. Er propagiert Toleranz als einzige Möglichkeit, etwa mit den religiösen Streitigkeiten, die die Welt bis heute umtreiben, fertig zu werden. So gesehen war für mich die Renaissance immer die „erste Aufklärung“, die dann später in die „zweite Aufklärung“ mündet. Sie lehrte Toleranz einerseits, brachte andererseits demokratische Ideen mit sich. Und da sehe ich bis heute nichts besseres. Es wurde einmal gesagt: Wäre Machiavellis republikanisches Projekt Wirklichkeit geworden, wäre das der schönste Bau der Renaissance gewesen. Machiavelli war nämlich entgegen mancher üblen Nachrede eigentlich ein Republikaner, ein Vordenker der Demokratie. Aber die Renaissance hat auch die Idee der Freiheit in die Welt gebracht und vieles andere mehr. Ideen, Konzepte, nicht nur Erfindungen sondern auch wirklich Ideen, die große Ideen sind, egal, was man damit macht und ob sie sich verwirklichen lassen oder nicht.
Dr. Radke: Herr Professor Roeck, was verdanken Sie Ihrem Leben als Wissenschaftler?
Prof. Röck: Man müsste natürlich anfangen mit Prägungen durch akademische Väter, durch akademische Lehrer wie Eberhard Weis, Thomas Nipperdey und andere. Aber dass man dann an der Universität landet und sein Leben Forschungen dieser Art widmen darf, ist, marxistisch gesprochen, ein Akt des Lebens ohne jede Entfremdung von dem, was man tut. Ich mache das sehr gerne, mit viel Begeisterung, und ich glaube auch, dass das dazugehört. Und ich hatte das Glück, relativ früh mit der Geschichtsschreibung Jacob Burckhardts in Verbindung zu kommen. Damals faszinierte mich nicht nur der Inhalt, sondern zwei weitere Dinge, und zwar zum einen der Blick auf Italien. Das hat dann mein Leben wirklich bestimmt. Ich war ja lange in Italien und habe mich diesem Land immer sehr verbunden gefühlt. Zum anderen war es die Schreibkunst. Burckhardt, ein Schweizer, ist meiner Meinung nach der bedeutendste deutschsprachige Historiker des 19. Jahrhunderts. Er macht in seiner „Cultur der Renaissance“ vor, wie man ein wirklich großes, wichtiges Thema wie den Beginn der Neuzeit in einem wirklich eleganten Stil vortragen kann. Manche stört ein gewisses Pathos, was aber bei Burckhardt immer durch leise Ironie gedämpft ist. Er ist ein Meister der Sprache, steht für mich unter den Historikern des 19. Jahrhunderts einzigartig da. Auch weil er ein sehr modernes Geschichtsbild vertritt. Und die Begegnung mit Burckhardt mit seiner skeptischen, manchmal tief pessimistischen Sicht auf die Dinge, hat mich damals tief beeinflusst und hat auch dazu geführt, dass ich mich mit “seiner“ Renaissance beschäftigt habe. Natürlich kann sich dieses Buch nicht mit Burckhardts messen, es ist nur eine Fußnote zu Burckhardts Werk. Wenn es das ist, ist das schon ganz gut.
Dr. Radke: Was haben Sie aus Italien an Eindrücken und Prägungen mitgebracht?
Prof. Röck: Wenn Sie heute nach Italien blicken, dann haben sie eigentlich nur die Sehnsucht mitgenommen, Orte zu finden, wo Italien noch so schön scheint, wie es uns die Kunst und die Literatur zeigt. Der Alltag dort ist schwieriger denn je. Ich glaube nicht, dass ich heute auf Dauer noch einmal in Italien leben wollte. Ich bin sehr gerne dort, immer wieder, aber als Gast und Freund, nicht für Monate oder Jahre. Die politischen Verhältnisse haben sich dort in einer Weise entwickelt, die einem wenig Freude bereitet. Und so kommt man zu der eigentlich sehr merkwürdigen Auffassung, dass man sich ein künstliches Italien zusammendenken, zurechtzimmern muss, um überhaupt diesem Land noch mit einem positiven Gefühl begegnen zu können.
Dr. Radke: Sie sind Schweizer Bürger und haben zugleich einen deutschen Pass. Sie arbeiten an der Universität Zürich. Unterscheidet sich die Wissenschaftskultur in der Schweiz stark von der deutschen akademischen Welt?
Prof. Röck: Natürlich ist die Wissenschaft hier in der Schweiz auch Weltspitze, gemeinsam mit der deutschen und der amerikanischen und anderen. Es gibt aber große Unterschiede, was die Diskussionskultur betrifft. Die Schweizer Kollegin, der Schweizer Kollege haben eine andere Art „nein“ zu sagen als der Deutsche. Wenn Schweizerinnen oder Schweizer zum Beispiel sagen: Das ist ein schöne Idee, eine gute Idee, darüber sollte man nochmal diskutieren, dann heißt das eigentlich: Das entspricht nicht meinen Vorstellungen. Man sagt also anders, zurückhaltender „nein“, man diskutiert gelassener, man fällt dem Anderen nicht ins Wort, man lässt ausreden. Der Nachteil ist, dass es dann oft weniger lebhaft zugeht und während der Andere noch ausredet hat man den Einwand, den man noch machen wollte, vergessen. Das ist schon anders als unter Deutschen. Ich bewundere die Schweiz, weil sie eine sehr gut - manchmal fast zu gut - organisierte Gesellschaft hat. Ich stelle in den letzten Jahren fest, dass die Weltoffenheit, die ich doch immer sehr geschätzt habe, die doch die Grundlage der Entwicklung ist, ein wenig zurückgegangen ist. Aber das ist ein anderes Thema.
Dr. Radke: Herr Professor Roeck, vielen Dank für das Gespräch.
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Die orthodoxe Kirche hat das antike Wissen von Generation zu Generation weitertradiert. Von Homer bis. Es gab zwar kulturell Krisenzeiten, aber es gab ständig Rennaissancen in Ostrom. Es war eine Goldgrube des Wissens mit Universität. Antikes und theologisches Wissen existierten in Ostrom, das der Westen zu Byzanz umbenannte, nebeneinander und zwar problemlos, da in Ostrom Klerus und Laos, d.h. Volk, ineinander verwoben waren, anders als im Westen. Als die Kreuzfahrer im Zuge des Vierten Kreuzzuges im Jahre 1204 die Hauptstadt Ostroms Konstantinopel einnahmen, flüchteten sämtliche Gelehrte gen Westen und im zweiten Zug nach der Einnahme der Stadt durch die Osmanen im Jahre 1453 flüchteten abermals sämtliche Gelehrte gen Westen, wo sie die Rennaissance miteinleiteten. Und dieses Wissen wurde auch in Russland weitertradiert, nachdem es von Ostrom christianisiert wurde und dessen Verwaltung auch orthodox geprägt war.