Die aktuelle Ausgabe der „Zeithistorischen Forschungen“ (3/2022) bietet ein Forum für ein breites Spektrum geschichtswissenschaftlicher Beiträge. Die historischen Perspektiven tragen vielleicht dazu bei, Probleme der Gegenwart besser zu verstehen – oder sie zumindest neu und anders zu beleuchten. Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind vielfältige historische Bezüge zu diesem Thema selbstverständlich präsent; der Krieg hat die Sicht auch auf frühere Entwicklungen neu justiert. So diskutieren Antero Holmila und Pertti Ahonen in ihrem Essay die jahrzehntelange finnische Neutralität, die mit dem NATO-Beitritt des Landes im April 2023 zu Ende ging. Die Autoren schildern pointiert, welche innen- und außenpolitischen Effekte die „Finnlandisierung“ im Kalten Krieg hatte. Für die Nachkriegsukraine könne ein solches Modell keine Option sein.
Der Geschichte der Sicherheitspolitik widmen sich auch die Beiträge von Fabian Bennewitz und Markus-Michael Müller sowie Niklas Lenhard-Schramm und Jan Stöckmann. Bennewitz und Müller untersuchen die „Polizeiliche Entwicklungshilfe“ der Bundesrepublik Deutschland für lateinamerikanische Staaten. Sie verdeutlichen, wie die in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgebauten bilateralen Kontakte zwischen demokratischen Staaten und Militärregimen zum integralen Bestandteil einer „Transnationalisierung Innerer Sicherheit“ wurden. Neben polizeilichen Ausbildungsprogrammen im engeren Sinne waren Informationsbesuche bei der GSG 9 sehr beliebt. Der Beitrag von Lenhard-Schramm und Stöckmann weist ebenfalls in die 1970er-Jahre: Die Autoren schildern die Gründungsgeschichte der Hochschulen (heute Universitäten) der Bundeswehr, die vor 50 Jahren ihren Lehrbetrieb aufnahmen. Welche Hoffnungen und Befürchtungen waren mit einer Akademisierung der Offizierslaufbahn verbunden? Warum entstanden bundeswehreigene Hochschulen (in Hamburg und München)? Welche Spannungen zwischen Militär und Wissenschaft, militärischer und ziviler Öffentlichkeit resultieren daraus bis heute?
Anknüpfungspunkte an weitere aktuelle Diskussionen bieten die Aufsätze von Zoé Kergomard und Sarah Knoll. Beide wenden sich Debatten zu, die zeitgenössisch als krisenhaft verstanden wurden: Kergomard untersucht den Streit über Stimm- und Wahlenthaltungen in der Schweiz der 1960er- bis 1990er-Jahre, insbesondere vor dem Hintergrund des erst 1971 auf Bundesebene eingeführten Wahlrechts für Frauen. Welches Maß an Nicht-Beteiligung wird in einer Demokratie zu bestimmten Zeiten als „normal“ eingestuft oder für das Symptom einer politischen „Krankheit“ gehalten? Welche Konzepte von demokratischer Partizipation werden dabei deutlich? Knoll beleuchtet die österreichische Flüchtlingspolitik um 1990 in Reaktion auf die als Krise wahrgenommene Emigration aus Rumänien. Die Fluchtbewegung, die in den Jahren zuvor innerhalb des „Ostblocks“ begonnen hatte, gewann durch die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ 1989/90 eine ganz neue Dynamik. Eine Kontinuitätslinie sieht die Autorin in fremdenfeindlichen Stimmungen: „Flüchtlinge werden immer noch in erster Linie als Sicherheitsrisiko wahrgenommen […].“
In der Rubrik „Neu gelesen“ erinnert Benjamin Möckel an die Textsammlung „Small is Beautiful“ des Wirtschaftswissenschaftlers und Politikberaters Ernst Friedrich Schumacher (1911–1977). In diesem Bestseller, vor 50 Jahren zunächst auf Englisch erschienen, suchte Schumacher nach ökonomisch fundierten Alternativen zu einer einseitigen Wachstumsideologie. Für Möckel „erscheint das Buch als ein intellektuelles Dokument jener Ära, in der zahlreiche Probleme der heutigen Zeit entstanden, aber in ihren Folgen noch nicht vollständig abzusehen waren“. Einen Klassiker ganz anderer Art wertet Monique Miggelbrink aus: die inzwischen Kult gewordenen IKEA-Kataloge. Das schwedische Möbelhaus kündigte im Dezember 2020 die Einstellung seines gedruckten Katalogs an. Über Jahrzehnte hinweg prägten IKEA-Kataloge Ordnungs- und Kreativitätsvorstellungen. Wie Miggelbrink an vielen deutschen und schwedischen Beispielen anschaulich zeigt, dienten die Kataloge gleichzeitig als Anleitung zur „standardisierten Selbsthilfe“.
Eine Metaperspektive auf den Wissenschaftsbetrieb bietet Jürgen Dinkel mit seinem Essay zur Geschichte akademischer Danksagungen. Er skizziert die Hintergründe und Merkmale dieser gängigen, gleichzeitig anspruchsvollen Praxis – von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Alle, die selbst eine Danksagung schreiben möchten bzw. müssen, sollten diesen Text vorab lesen…
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (seit dem Heft 1/2021 unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen aus dem gesamten Spektrum der Zeitgeschichte sind für künftige Hefte jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autor:innen finden sich auf unserer Website.