Das aktuelle Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ (3/2021), herausgegeben von Cornelia Brink, Olmo Gölz und Nina Verheyen, betrachtet sich verändernde Praktiken, Repräsentationen und Vorstellungen von Männlichkeiten. Der Plural ist bewusst gewählt, denn viele Geschlechterstudien der vergangenen Jahre haben bereits belegt, dass Männlichkeit als mehrfach relationale Kategorie zu verstehen ist. Die häufig unterstellte Binarität „männlich/weiblich“ muss selbst historisiert werden. Der Blick auf Männlichkeiten kann dabei zum Verständnis von Prozessen der Binarisierung und Vereindeutigung, aber auch der Erneuerung und Erweiterung der Geschlechterordnung beitragen.
Bei näherem Hinsehen hat es Aushandlungsprozesse um Männlichkeiten in der Vergangenheit immer wieder gegeben. In den letzten Jahren scheinen sie sich konflikthaft zugespitzt zu haben – aber womöglich ist dieser Eindruck das Resultat einer präsentistischen Verkürzung, die es aus zeitgeschichtlicher Perspektive gerade zu überwinden gilt. Historisch-empirische Fallstudien zu Transformationen der Geschlechterverhältnisse, verbunden mit der Frage nach den Gründen für Beharrungskräfte älterer Muster, können in der aktuellen Lage jedenfalls aufschlussreich sein, und zwar nicht allein für die Geschichtswissenschaft.
In den Beiträgen des Themenhefts richtet sich der Blick vor allem auf Gruppen von Männern, die nicht an der Spitze sozialer Hierarchien standen, sich aber auf jeweils hegemoniale Formen von Männlichkeit bezogen und damit, geradezu paradox, überkommene Muster perpetuierten: iranische Männer auf der Suche nach kultureller Authentizität in Abgrenzung von westlicher Hegemonie (Olmo Gölz), muslimische Männer in einer sich als laizistisch verstehenden Türkei (Jan-Markus Vömel), im Zweiten Weltkrieg geschlagene deutsche Männer mit eigentlich vollkommen desavouierten Idealen (Vera Marstaller), von Arbeitslosigkeit bedrohte britische Bergarbeiter in den 1970er-Jahren (Jörg Arnold), obdachlose Männer in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er-Jahren (Britta-Marie Schenk), an Aids erkrankte homosexuelle Männer in verschiedenen Ländern (Mona Leinung), schwarze Männer in einer rassistisch strukturierten nordamerikanischen Gesellschaft (Anke Ortlepp). Synchron wie diachron wird die Pluralität von Männlichkeitskonstruktionen in Diskursen und Alltagserfahrungen deutlich. Zugleich bezogen und beziehen sich diese immer wieder auf das „andere“ Geschlecht – oder präziser: auf „andere“ Geschlechter in der Mehrzahl. Männlichkeiten waren und sind auf vielfältige Weise in Bewegung: emotional, ökonomisch, soziokulturell und politisch. Einigen dieser multiplen „Gender Troubles“ geht das Heft mit spezifisch zeitgeschichtlichen Perspektiven nach.
Nicht zufällig gibt es dabei viele Verbindungslinien zu anderen zeithistorischen Forschungsschwerpunkten: etwa zur Geschichte der Arbeit (siehe auch die Debatte zwischen dem Psychoanalytiker Mostafa Kazemian, dem Historiker Jürgen Martschukat und der Soziologin Sylka Scholz), zur Sportgeschichte, zur Geschichte der Subjektivität und der Subjektivierung, zur Geschichte der Homosexualitäten (siehe auch den Beitrag von Benno Gammerl). Wenn Gammerl mit Verweis auf Eve Kosofsky Sedgwicks Klassiker „Epistemology of the Closet“ von 1990 für „Differenzkompetenz statt Identitätspolitik“ plädiert, wird klar, dass sich Bezüge zu den Anerkennungskämpfen der Gegenwart nicht ausblenden lassen – und dass dies auch nicht sinnvoll wäre. Das Themenheft unternimmt aber den Versuch, derartige Auseinandersetzungen durch Historisierung zu versachlichen. So präsentiert Cornelia Brink unter dem Titel „Anachronismen und neue Aufmerksamkeiten“ bedenkenswerte „Überlegungen zur geschlechtersensiblen Sprache in der deutschsprachigen historischen Forschung“.
Parallel zum aktuellen Themenheft „Männlichkeiten“ haben wir bereits einen Aufsatz aus dem nächsten „offenen“ Heft auf der Website zugänglich gemacht: Frank Biess fragt nach dem Stellenwert von Günter Wallraffs Erfolgsbuch „Ganz unten“ (Erstausgabe 1985) im Kontext von (Anti-)Rassismus in der Bundesrepublik. Die Beobachtung einer zeitgenössisch fehlenden „Differenzkompetenz“ ist auch hier ein zentraler Punkt.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (seit dem Heft 1/2021 unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autor:innen finden sich auf unserer Website.