Das aktuelle Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ (2/2021), herausgegeben von Tatjana Tönsmeyer und Heike Wieters, untersucht und diskutiert Fragen der Welternährung und Hungerhilfe. Nach wie vor gehört Hunger zu den größten Menschheitsproblemen. In Afghanistan, Äthiopien und anderswo kann man dies ganz akut beobachten, aber auch in vielen reicheren Ländern des Globalen Nordens sind Hunger, Mangel- und Fehlernährung zumindest für Teile der Gesellschaft alltägliche Bedrohungen, eng verknüpft mit Fragen der sozialen Ungleichheit, der Gesundheitsversorgung, der Demographie und der Migration, der Umweltsituation und des Klimawandels. Um diese Gemengelage besser einordnen und auch politisch (vielleicht) klüger handeln zu können, bedarf es nicht zuletzt historischer Erklärungen und Analysen. Hunger ist kein Naturereignis, sondern hat eine Geschichte. Und gerade für das 20./21. Jahrhundert ist inzwischen auch die Hungerhilfe ein Thema, das der Historisierung bedarf – zumal sich die unterschiedlichen Versuche zur Bekämpfung des Hungers nicht eindeutig als „Erfolg“ oder „Scheitern“ bilanzieren lassen.
Das Themenheft stellt zeithistorische Konzepte, Praktiken und Lernprozesse der Versorgung, Hungerhilfe und -prävention ins Zentrum. Ein besonderes Interesse gilt dabei den sich wandelnden Wissensordnungen über Ernährung und Hungerprävention. Die Untersuchung Internationaler Organisationen, transnational vernetzter NGOs, nationaler Regierungen und lokaler Akteure eröffnet einen differenzierten Blick auf jene Orte und politischen Bühnen, auf denen Wissen akkumuliert, Konzepte ausgehandelt, Praktiken erprobt und Lernprozesse reflektiert wurden, um neue Maßnahmen internationaler Versorgung, Hungerhilfe und -prävention im 20. Jahrhundert zu entwickeln. Die Beiträge adressieren drei große geschichtswissenschaftliche Forschungsfelder und verschränken zentrale Themen der Zeitgeschichte miteinander: die Geschichte des Humanitarismus, die Geschichte Internationaler Organisationen und zivilgesellschaftlicher Akteure sowie die Geschichte von Ernährung und Versorgung im Zeitalter der Ideologien. Das Heft diskutiert somit den Einfluss staatlicher und nichtstaatlicher Akteure auf globale Politik und neue Formen globaler Governance, auf Nahrungsmittelmärkte und internationale Standardisierungsprozesse sowie auf dominierende Modelle im Gesundheits-, Entwicklungs- und Ernährungsbereich.
Die zeithistorischen Fallstudien widmen sich der sowjetischen Lebensmittelhilfe für Afrika in der Ära des Kalten Krieges (Monica Rüthers/Marianna Zhevakina), dem Kampf der Weltgesundheitsorganisation gegen Mangelernährung und Kindersterblichkeit (Claudia Prinz) sowie der Rolle von Ernährungsforschung und Lebensmittelindustrie auf der Suche nach neuartigen „Wonder Foods“ (Christiane Berth/Heike Wieters). Weitere Beiträge betrachten den internationalen Einfluss von Fotografien auf die Hungerhilfe für Bengalen im Jahr 1943 (Joanna Simonow), Pearl S. Bucks literarische Darstellung der chinesischen Landbevölkerung in ihrem Klassiker „The Good Earth“ von 1931 (Chunjie Zhang) und Amartya Sens ökonomisches Erklärungsmodell für Hungersnöte (Florian Hannig). Ein Interview mit dem britischen Forscher Tom Scott-Smith reflektiert das Verhältnis zwischen praktischer humanitärer Hilfe, ethnographischer und historischer Forschung.
Zusätzlich zum thematisch gebundenen Teil enthält dieses Heft außerdem vier Beiträge zu anderen Themen. Drei davon beschäftigen sich mit der Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte der NS-Herrschaft, speziell im Hinblick auf Quellen der Judenverfolgung und des Antisemitismus (Ernst Wolfgang Becker, René Schlott, Isabel Enzenbach). In der Rubrik „Neu gelesen“ setzt sich Eckhard Jesse schließlich mit Juan J. Linz’ für die Geschichts- und die Politikwissenschaft gleichermaßen bedeutsamer Studie „Totalitarian and Authoritarian Regimes“ von 1975 auseinander, die den Blick für die Spezifika nicht-demokratischer Regierungssysteme schärfen kann – trotz aller Zeitgebundenheit von Linz’ Typologien ein weiterhin höchst aktuelles Thema.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (seit dem Heft 1/2021 unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autorinnen und Autoren finden sich auf unserer Website.