Die Fixierung auf die Kriegsschuldfrage in den Diskussionen über den Ersten Weltkrieg verschleiern den Blick auf viele andere Fragen, die sich professionelle Historikerinnen und Historiker längst stellen. Das meint jedenfalls der Historiker Prof. Dr. Friedrich Kießling von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die Forschung sei schon viel weiter. Umso bemerkenswerter, dass vor allem in den Feuilletons die Kriegsschulddebatte wieder so viel Aufmerksamkeit findet und heiß geführt wird. Woran das liegt und welche Fragen sich vielmehr aufdrängen, darüber haben wir mit Prof. Dr. Friedrich Kießling gesprochen.
"Die Konzentration auf die Kriegsschuldfrage ignoriert internationale Dimensionen"
L.I.S.A.: Herr Professor Kießling, in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung haben Sie mit Blick auf die aktuellen Debatten rund um den Ersten Weltkrieg eine „Nationale Nabelschau“ ausgemacht. Was genau meinen Sie damit?
Prof. Kießling: Mir ging es um die Frage nach den Kriegsursachen und die zuletzt wieder recht heftig geführte Diskussion um den deutschen Anteil daran. Das bleibt natürlich ein wichtiges Thema. Wogegen ich mich wende, ist die Dominanz der alten „Schuldfrage“ auch heute noch. Nehmen wir Christopher Clarks Buch, das die Debatte in Deutschland ausgelöst hat: Clark interessiert ja nicht, welche Verantwortung die eine, die andere oder eine dritte Regierung trägt. Er fragt nach Mustern, nach systematischen oder nach europäischen Erklärungen. Und ich glaube, er hat völlig recht damit. Das spezifische Verhalten einer Regierung reicht zur Erklärung des Krieges nicht aus. Es war ebenso eine bestimmte Art und Weise, Außenpolitik zu betreiben, die wir uns ansehen müssen, und diese war, jedenfalls auf dem Kontinent (die britische Politik sehe ich im Umkreis der Julikrise etwas anders), beileibe kein deutsches Spezifikum. Wenn wir es so betrachten, dann reden wir über die Rolle von Prestige, von „nationaler Ehre“, von geopolitischen Kalkülen, von geschriebenen und ungeschriebenen Regeln sowie deren Einhaltung, von Glaubwürdigkeit oder auch dem Entstehen von Vertrauen sowie dem Wachsen von Misstrauen in den internationalen Beziehungen. Das sind Fragen, die eben nicht national zu beantworten sind, die aber bis heute für die Analyse von internationalen Systemen hoch relevant sind.
Noch etwas kommt hinzu: Eine Erkenntnis der jüngeren Forschung ist, dass das Deutsche Reich weniger im Zentrum der internationalen Beziehungen vor 1914 stand, als wir lange Zeit dachten. Es gab wichtige Entwicklungen, mit der die deutsche Politik nur wenig oder gar nichts zu tun hatte. Für die britische Regierung war die Situation in Indien mit entscheidend. Für die russische Politik war Ostasien ganz wichtig. Auf beides hatte Berlin keinen oder kaum Einfluss. Das macht die Entscheidungen der Berliner Führung in der Julikrise nicht besser, die alleinige Konzentration auf die Kriegsschuldfrage ignoriert aber diese internationale Dimension. Sie tut so, als sei alles von Berlin ausgegangen. Auch das ist aus meiner Sicht eine Art von nationaler Nabelschau. Es schreibt darüber hinaus eine nationale Perspektive auf die Geschichte fort, die wie eigentlich im Moment zu überwinden versuchen.