Die Frage, was Österreich tatsächlich ausmacht beziehungsweise was Österreich ist, steht wieder auf der Tagesordnung. Deutlich wurde dieses in Österreich nicht wirklich neue Bedürfnis nach Selbstvergewisserung zuletzt im Zuge der Debatten rund um die emotional aufgeladene Wahl des Bundespräsidenten. Einmal mehr ringen die Österreicher darum, was ihre nationale Identität im Kern ausmacht. Kein leichtes Unterfangen angesichts der zahlreichen politischen, kulturellen sowie historischen Referenzmöglichkeiten, welche die Österreich-Idee bietet: Habsburger- und Donaumonarchie, Großdeutschland, Republik Österreich. Der Kulturhistoriker Prof. Dr. Gerald Stieg hat die wieder virulente Frage nach der österreichischen Identität zum Anlass genommen, darüber ein Buch zu schreiben, das bereits im Titel die Ambivalenz des Themas deutlich macht: Sein oder Schein? Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Frage, wie und ob die österreichische Identität überhaupt definierbar ist"
L.I.S.A.: Herr Professor Stieg, in Ihrem Buch „Sein oder Schein“ gehen Sie der Fragen nach, was die Identität Österreichs eigentlich ausmacht. Sie umreißen dabei die Zeit von Kaiserin Maria Theresia im 18. Jahrhundert bis zum Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938. Warum dieses Buch? Welche Frage hat Sie bei den Vorüberlegungen geleitet?
Prof. Stieg: Das Buch verdankt sich dem Auftrag eines französischen Verlags, der allerdings ein ganz anderes Resultat gewünscht hatte, etwas im Geist der „Welt von gestern“ Stefan Zweigs oder der in Frankreich besonders intensiven Ausstrahlung der Wiener Moderne. Für mich wurde diese unerwartete Auftragsarbeit jedoch der Anlass, mich auf die Suche nach der österreichischen nationalen Identität zu begeben. Es wurde eine ironische Suche, geleitet vom Epigramm „Nationalismus“ des österreichischen Erzsatirikers Karl Kraus:
Dass du nicht meiner Mutter Sohn,
Das wird mich dauernd empören.
Es ist und bleibt der Stolz der Nation,
Zur anderen nicht zu gehören.
Am Beginn der 1980er Jahren war diese Frage Thema zweier engagierter Bücher, das eine vom katholischen Historiker und Kulturphilosophen Friedrich Heer unter dem Titel „Der Kampf um die österreichische Nation“, das andere vom austro-marxistischen Begründer der Österreichstudien in Frankreich, Félix Kreissler, unter dem sprechenden Titel „Die österreichische Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen“. Es waren zwei Kampfbücher leidenschaftlicher Patrioten, geschrieben in einer Phase der endgültigen Konsolidierung des österreichischen Nationalbewusstseins. Doch der Mythos einer ihrer selbst gewissen harmonischen „Insel der Seligen“ (Papst Paul VI.) war nicht von Dauer. 1986 hat im Präsidentschaftswahlkampf der Kandidat Kurt Waldheim die verschleierte Vergangenheit aufgerissen und im Inland und Ausland Zweifel an der offiziellen Identität seines Landes entstehen lassen. Im Jahr 2000 wurde die Republik durch den Koalitionspakt mit Jörg Haider, der seine Sympathien für das Dritte Reich kaum verhehlte, von der Europäischen Gemeinschaft mit Sanktionen belegt. In beiden Fällen wurde Österreich von einer Vergangenheit eingeholt, die Zweifel an der Echtheit seiner Identität erweckte. Denn diese beruhte weitgehend auf der von den Alliierten 1943 aufgestellten These, Österreich sei das erste Opfer des Dritten Reiches gewesen. Durch den Staatsvertrag von 1955 wurde Österreich von denselben Alliierten auf ein ewiges Anschlussverbot an Deutschland verpflichtet, als wäre dem Opferstatus der Republik nicht ganz zu trauen.
Für mich stellte sich auf diesem Hintergrund die Frage, wie und ob die österreichische Identität überhaupt definierbar sei. Die bloß historischen Fakten schienen mir dabei zwar wichtig, aber weniger aufschlussreich als das ständige Bemühen, durch symbolische Konstruktionen zu einem nationalen Selbstverständnis zu gelangen. Das Buch ist also voll von Versuchen der „Kulturgeschichtskonstrukteure“ (Musil), das Wesen des „homo austriacus“ zu definieren. Auch aus diesem Grund habe ich es für richtig gehalten, meine persönlichen Erfahrungen in Kindheit und Jugend einzubeziehen, in denen sich wenn auch nur fragmentarisch die offizielle Schulpolitik der 1940er und 1950er Jahre spiegelt, die die Erziehung zum Österreichbewusstsein zum Ziel hatte und deren signifikantesten Aspekte die Ersetzung des Faches Deutsch durch Unterrichtssprache und die Einführung eines österreichischen Wörterbuches waren.