Verfehlungen in der Wissenschaft können sich auf verschiedene Weisen äußern. Sei es, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewusst ihre Forschung beschönigen oder gar Fakten auslassen, die ihren Thesen widersprechen; sei es, dass Teile der Werke anderer als eigene Gedanken verkauft werden. Doch es gibt weitere Aspekte, die die Fehlbarkeit in der Wissenschaft zeigen. Was, wenn sich scheinbar gesichertes Wissen im Nachhinein als falsch herausstellt? Wie verlässlich ist letztendlich das aus Wissenschaft erzeugte Wissen? Die Freiheit der Wissenschaft, jedwede Fragestellung ergebnisoffen zu erforschen, macht den Kern der Produktion von wissenschaftlichem Wissen aus. Doch für die Gesellschaft bedeutet dies eine große Unsicherheit, denn das aus der Wissenschaft gewonnene Wissen ist essentiell, wie wir auch gerade jetzt in einer medizinischen Sondersituation wie der COVID-19-Pandemie feststellen. Deshalb fordern Gesellschaften Regularien, um die Wissenschaft "sicherer" zu machen, um Fehler zu vermeiden. Wie reagiert die Wissenschaft auf diese Forderungen, wie auf Fehlverhalten innerhalb ihrer Gemeinschaft? An welchen Normen und Werten orientiert sie sich dabei und wie begründet sie diese? Darüber sprachen wir mit Dr. Felicitas Heßelmann von der Humboldt Universität zu Berlin, die die institutionellen Umgangsweisen mit wissenschaftlichem Fehlverhalten anhand von Interviews und Dokumentenanalysen untersucht hat.
"Wo Regeln verletzt, Fehler gemacht und Sanktionen verhängt werden"
L.I.S.A.: Im Zusammenhang mit Corona ist die Wissenschaft als solche derzeit wieder verstärkt im Gespräch, es findet eine öffentliche Debatte um Wissenschaft und ihre Integrität und auch Fehlbarkeit, sozusagen die Ambivalenz von Wissenschaft statt. Man könnte sagen, dass Sie, wenn Ihr Thema auch in eine etwas andere Richtung geht, einen aktuellen Nerv getroffen haben. Was hat Sie ursprünglich dazu bewegt, zu diesem Thema zu arbeiten?
Dr. Heßelmann: Mich beschäftigt das Thema wissenschaftliches Fehlverhalten schon seit 2014, als ich Mitarbeiterin im BMBF-geförderten Projekt „Beschämte Wissenschaft – Reintegration vs. Stigmatisierung von Fehlverhalten“ war. Mein Hintergrund war eher die Kriminologie und auch die Soziologie des abweichenden Verhaltens, mit Wissenschaftssoziologie hatte ich mich vorher noch nicht auseinandergesetzt. Man könnte also sagen, mein Einstieg in die Wissenschaftsforschung war schon von Beginn an geprägt von einem Fokus gerade auf spezielle Probleme der Wissenschaft, auf Situationen, in denen möglicherweise Regeln verletzt, Fehler gemacht und Sanktionen verhängt werden. Mich interessiert generell die soziologische Frage, wie sich soziale Gemeinschaften über vermeintlich geteilte Regeln selbst definieren und wie sie auf Verletzungen dieser Regeln reagieren. Es stimmt auch, dass wissenschaftliche Integrität bereits in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit bekommen hat, und dass dazu bereits viele Überlegungen und Diskussionen angestoßen wurden, die jetzt im Zusammenhang mit Corona vielleicht an zusätzlicher Brisanz gewinnen, die aber innerhalb der wissenschaftlichen Community schon länger relevant sind.