Während sich im April 1943 die jüdische Bevölkerung des Warschauer Ghettos gegen die deutsche Besatzungsmacht erhob, verhandelten zeitgleich sechs Vertreter der britischen und amerikanischen Regierungen zwischen Palmen und rosafarbenen Sandstränden auf der Atlantikinsel Bermuda über die Rettung der europäischen Juden. Der Aufstand im Warschauer Ghetto wurde nach gut vier Wochen niedergeschlagen, die Konferenz auf Bermuda endete bereits nach zehn Tagen ergebnislos. Mit den Gründen für das Scheitern der Konferenz und ihren Folgen beschäftigt sich der Historiker Dr. Sebastian Musch, Universität Osnabrück, in einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt. Zum Anlass des 80. Jahrestags der Bermuda-Konferenz haben wir ihn zu seinem Projekt befragt.
"Kontinuitäten im Umgang mit Flucht und Vertreibung"
L.I.S.A.: Herr Dr. Musch, Sie sind Historiker an der Universität Osnabrück und leiten ein von der Gerda Henkel Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zur Erforschung der sogenannten Bermuda-Konferenz 1943. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, und welche Vorüberlegungen gingen dem Projekt voraus?
Dr. Musch: Die Bermuda-Konferenz ist besonders im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt. Ich selbst bin zum ersten Mal vor einigen Jahren bei meinen Recherchen zu Kurt Grossmann, dem bekannten deutsch-jüdischen Pazifisten und Publizisten, auf die Bermuda-Konferenz gestoßen. Grossmann war während des Zweiten Weltkriegs für verschiedene jüdische Organisationen in den USA tätig und hat gemeinsam mit dem Soziologen Arie Tartakower 1944 das Buch The Jewish Refugee herausgegeben. Das Buch ähnelt in seiner Form einem Nachschlagewerk mit Einträgen zu den unterschiedlichen Ländern von Südamerika bis Asien, und ihrer Migrationspolitik und den Aufnahmemöglichkeiten für jüdische Flüchtlinge. In The Jewish Refugee ist die Bermuda-Konferenz, die während der Niederschrift des Buches stattfand, sehr präsent, zeigt sie – für Grossmann und Tartakower – doch exemplarisch das Versagen der USA und Großbritannien, den von Nationalsozialisten und ihren Verbündeten verfolgten Juden und Jüdinnen zu Hilfe zu kommen. Durch die Lektüre von The Jewish Refugee angeregt, begann ich nach Forschungsliteratur zur Bermuda-Konferenz zu suchen und musste bald feststellen, dass es – neben einigen älteren Darstellungen in der englischsprachigen Literatur aus den Holocauststudien – zum einen aktuell kaum eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bermuda-Konferenz gibt und zum anderen, dass ihre Kontextualisierung in der Migrationsgeschichte bisher komplett ausgeblieben war.
Und so wurde die Idee für unser Forschungsprojekt geboren. In dem Projekt wollen wir, erstens, die Bermuda-Konferenz einer aktualisierten Betrachtung aus der Holocaustforschung unterziehen, dabei die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in diesem Gebiet einbeziehen, und vielleicht das ein oder andere ältere Urteil überprüfen und gegebenenfalls ergänzen; zweitens, Fragestellungen und Ansätze der Migrationsgeschichte anwenden und somit die Bermuda-Konferenz unter einer bisher nicht benutzen Perspektive betrachten und schauen, welche Einflüsse sie auf die politischen, institutionellen und diskursiven Kontinuitäten im Umgang mit Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert hatte; und drittens, da bisher die Forschung zur und das Wissen über die Bermuda-Konferenz beinahe ausschließlich im englischsprachigen Raum verbreitet war, sie auch im deutschsprachigen Raum in der Geschichtswissenschaft und in der breiteren Öffentlichkeit bekannter machen und so über unser Forschungsprojekt hinaus, zur Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Bermuda-Konferenz im Speziellen und der Flucht- und Migrationsgeschichte im Kontext des Zweitens Weltkriegs im Allgemeinen anzuregen.