L.I.S.A.: Die Reaktionen auf „Münkler-Watch“ in den Medien sind überwiegend negativ. Den bloggenden Studierenden wird vor allem vorgeworfen, anonym zu agieren. Sie hingegen verteidigen diese Vorgehensweise und bezeichnen sie als legitim. Warum? Gibt es an Universitäten für offen ausgesprochene Kritik keinen anderen Raum mehr als den eines anonym geführten Blogs? Anders gefragt: Hätten die Studierenden auch einen anderen Weg wählen können beziehungsweise sollen, um ihren Unmut zu äußern?
Bahners: Die Unzulässigkeit anonymer Meinungsäußerungen in der Hochschulöffentlichkeit wird in den meisten Pressekommentaren vorausgesetzt und gar nicht erst begründet. Aus dieser Gedankenlosigkeit speist sich die Empörung. Kurzes Nachdenken, wenigstens ein Blick ins Geschichtsbuch, würde das Fieber sofort abklingen lassen. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass die Verteidiger Münklers das prächtige Wort von Eduard Gans gegen das „Banditenwesen der Anonymität“ noch nicht zitiert haben. Denn es liegt ja auf der Hand, dass der Jurist Gans, Professor in Berlin und Mitbegründer der hegelianischen „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“, gegen eine Üblichkeit des wissenschaftlichen Publikationswesens seiner Zeit polemisierte.
Der Präsident der Humboldt-Universität, Jan-Hendrik-Olbertz, hat den Bloggern im Deutschlandfunk einen Verstoß gegen „die guten Regeln wissenschaftlicher Praxis“ vorgeworfen und in einem Artikel in der „Berliner Zeitung“ raunend die Frage gestellt, ob womöglich „das Zeitalter der Aufklärung vorbei“ sei, wenn „bisherige Regeln des wissenschaftlichen Austausches“ nicht mehr gelten sollten. In der Zeit, als Wilhelm von Humboldt die heute nach ihm und seinem Bruder benannte Universität gründete, waren sowohl anonyme als auch namentlich gezeichnete Rezensionen normal, wobei die Regeln von Zeitschrift für Zeitschrift unterschiedlich waren. Im Hinweisblatt für Autoren der „Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur“ stand: „Jeder Rezensent hat, im Fall er dies wünschen sollte, das Recht, sich unter seiner Kritik zu unterzeichnen.“ Im Fall er dies wünschen sollte! Das klingt eher nach erlaubter Ausnahme. Die Erwartung anonymer Publikation entspricht ja auch besser dem Grundgedanken der Aufklärung, dass es in der Gelehrtenrepublik auf die Sache ankommen soll, das Gewicht der Tatsachen und Argumente, und nicht auf die Autorität des Verfassers, den im Ständestaat alles bestimmenden Rang. Wenn heute alle Beiträge in Fachzeitschriften mit Verfassernamen erscheinen, liegt der Grund nicht in einem Fortschritt der Aufklärung gegenüber der Aufklärung, sondern darin, dass Karrierechancen im Wissenschaftssystem an die Reputation gebunden sind. Man muss sich einen Namen machen. Studenten brauchen sich aber noch nicht für ihre Reputation zu interessieren.
Im goldenen Zeitalter des britischen kritischen Zeitschriftenwesens waren wie in der britischen Presse überhaupt alle Artikel anonym. Das änderte sich erst im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. Leslie Stephen, der Vater von Virginia Woolf, publizierte 1868 einen Artikel zur Kontroverse über die Anonymität im Journalismus - abwägend, aber anonym. Die Blogger haben viel Spott auf sich gezogen mit ihrem mehr oder weniger unironischen Bekenntnis, sie wollten aus Furcht um ihre Berufsaussichten ihre Namen nicht nennen. Stephen warb um Verständnis für den „aufstrebenden jungen Rechtsanwalt“, der zu einer Streitfrage des Tages etwas beizutragen hat, aber sich vor den Augen älterer Kollegen nicht durch Vertretung kontroverser Ansichten exponieren möchte.
Die klassische liberale Lehre von der Meinungsfreiheit, wie sie uns bei Stephen entgegentritt, ist von der realistischen Sorge vor dem Konformitätsdruck geprägt, der gerade in einer Öffentlichkeit der befreiten Meinungen und professionellen Meinungsproduzenten entsteht. Stephen gestand zu, dass man von der Einführung von Autorenzeilen in den Zeitungen eine Hebung des Tons erwarten dürfe. Dieser Gewinn für die literarischen Umgangsformen wäre aber erkauft mit einem Verlust an Freimut. Wenn eine Zeitung Raum für die ausführliche und unbefangene Erörterung jedes Aspekts jeder Frage bieten solle, so Stephen, sei jede Einschränkung der Möglichkeit, sich freimütig auszudrücken, ein Übel.
Auch Stephen führte gleich am Anfang seines Artikels das Bild vom Banditen an, als Topos und Schlagwort: Ein anonymer Rezensent müsse damit rechnen, als gedungener Mörder beschimpft zu werden. Die Durchsetzung der Autorennamen war ein Triumph des viktorianischen Ideals der Männlichkeit. Mit der Forderung nach dem offenen Visier glauben die Kritiker von Münkler-Watch eine schiere Selbstverständlichkeit auszusprechen. Ihnen kann man entgegenhalten, was Stephen zur Verteidigung seines hypothetischen Anwalts zu bedenken gab: Die Forderung, ein Autor müsse mit seinem Namen und seinem Ansehen für seinen Standpunkt einstehen, geht ins Leere, wo er kein Privatwissen geltend macht, sondern sich auf offenkundige Tatsachen beruft: „Nicht seine persönliche Wahrhaftigkeit wird schließlich bestritten, sondern die Stärke seiner Argumente.“ Stephen postulierte damals schon mit Blick auf den Typ des informierten Autors, den wir Whistleblower nennen, „jede Form von Erörterung“ sei begrüßenswert. Ein Publikationsverbot für anonyme Verfasser wäre nur unter einer „absoluten Regierung“ verständlich, wir würden sagen: in einer Diktatur.
Diese liberale Auffassung deckt sich mit dem, was die höchsten Gerichte heute auch in Deutschland verkünden: Es gibt keine Ausweispflicht für den Gebrauch der Meinungsfreiheit. Die Aufforderung an die Blogger, aus der Anonymität herauszutreten, sprach der HU-Präsident, vormals Kultusminister von Sachsen-Anhalt, in offenkundiger Unkenntnis des BGH-Urteils zum Lehrerbewertungsportal spickmich.de von 2009 aus. Dort sprach der Bundesgerichtshof der Anonymität genau die Funktion des vorsorglichen Schutzes in Verhältnissen ungleicher Machtverteilung zu, auf die die Münkler-Beobachter sich berufen: „Die Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich die Gefahr begründen, dass der Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung entgegen gewirkt werden.“
Wohlgemerkt nahm der BGH diese Einschätzung im Kontext eines Werkzeugs zur Benotung von Lehrern durch Ermittlung des arithmetischen Mittelwerts anonymer Bewertungen vor. Von solchen subjektiven, punktuellen, von jeder Begründungspflicht entlasteten Meinungsäußerungen ad personam hebt sich die sachliche Beschäftigung mit der Lehre und den Lehren Herfried Münklers bei Münkler-Watch ab. Das Unternehmen ist auf ein Semester angelegt; was bei Münkler-Watch eingestellt wird, ist durch einen Diskussionsprozess in der Gruppe hindurchgegangen.
Die Legitimität der Namenlosigkeit der Blog-Autoren kann nach meiner Meinung nicht ernsthaft bestritten werden. Eine andere Frage ist es, ob die Blogger gut beraten waren, von der Lizenz zur Anonymität im gegebenen Kontext Gebrauch zu machen. Das ist eine Klugheitsfrage.
Hierzu muss man zuerst feststellen, dass die universitären Amtsträger mit ihren Reaktionen auf die Anonymität alles getan haben, um die Vorsicht der Blogger berechtigt erscheinen zu lassen. Die Aufforderung des Präsidenten, die Anonymität zu verlassen, kommt einer Maßregelung gleich - und diese Maßregelung wurde in einer Presseerklärung vorgenommen, nicht in einem ordentlichen Verfahren.
Auf der anderen Seite verdienen die Erwägungen, die in den Debatten der deutschen und britischen kritischen Journale im neunzehnten Jahrhundert gegen die Anonymität vorgebracht wurden, sehr wohl bedacht zu werden. Von der Zurechnung der Artikel an einzelne, persönlich ansprechbare Autoren versprach man sich eine disziplinierende Wirkung: eine Zurückdrängung der Invektive, einen verbindlicheren Stil. Anonymität hat Kosten: Wer in der heutigen Wissenschaftskultur anonym publiziert, errichtet ein Rezeptionshindernis. Ein starker Grund für die Anonymität im klassischen Zeitalter der liberalen Öffentlichkeit lag darin, dass Zeitschriften wie die „Edinburgh Review“, das philosophische Organ der britischen Whig-Partei, eine kollektive Autorenpersönlichkeit ausbilden wollten. „We“, die Edinburgher Kritiker, urteilten mit quasi gegenmonarchischem Autoritätsanspruch über die Finanzpolitik von Mr. Pitt und die Gedichte von Mr. Wordsworth. Der Verzicht auf Autorennamen erleichtert das Redigieren. Die Anteile verschiedener Personen an der Entstehung eines Textes können unsichtbar gemacht werden. Darin liegt ein großer Reiz der Anonymität für das Team von Münkler-Watch: Das Schreiben ist Ausfluss von Diskussionen; die Blogger wollen einerseits als Gruppe politisch Stellung beziehen und stellen andererseits auf ihrer Seite auch Provisorisches und Unfertiges ein, Texte, hinter denen vielleicht nur ein Teil der Gruppe im gegebenen Moment steht.
Dieser offene Forumscharakter eines anonymen, allgemein zugänglichen Blogs befördert interne Klärungsprozesse, erschwert aber Außenstehenden den Zugang. Das Produkt eines solchen Autorenkollektivs kann hermetisch und sektiererisch wirken. Auch solche Irritationen gingen in die Reaktionen auf Münkler-Watch ein.
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Im Übrigen bezieht sich der Kommentar auf das System "Münkler-Watch" und sonst nix.
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