Die Universalbibliothek ist eine Utopie - im Idealfall umfasst sie alle Bücher, die jemals geschrieben worden sind. An diesem Ideal der vollständigen Wissenssammlung orientierte sich bisher die Praxis der Literaturversorgung der deutschen Staats- und Universitätsbibliotheken. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) förderte den Aufbau von sogenannten Sondersammelgebiete (SSG). Dieses System der Literaturversorgung ist nach Meinung der DFG aus mehreren Gründen an seine Grenzen gestoßen. Ein neues Verfahren soll nun den aktuellen Herausforderungen der Literaturbeschaffung besser gewachsen sein: die Fachinformationsdienste (FID). Das Echo auf diesen Paradigmenwechsel ist nicht nur positiv. Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, Vorsitzender des Historikerverbands, hat zuletzt in einem Zeitungsbeitrag angemahnt, nun auch über die "negativen Folgen der Umstellung zu diskutieren". Welche das sein könnten und was der Wandel in der Literaturversorgung für die Geisteswissenschaften bedeutet, darüber haben wir mit der Historikerin Prof. Dr. Renate Dürr von der Universität Tübingen gesprochen, die seit 2011 auch Mitglied des DFG-Unterausschusses „Überregionale Literaturversorgung“ ist.
"Ein 'Luxus', den die Forschung erst zukünftig zu schätzen wissen wird"
L.I.S.A.: Frau Professor Dürr, System und Praxis der Literaturversorgung deutscher Bibliotheken erfahren zurzeit einen paradigmatischen Wandel: weg von den Sondersammelgebieten, hin zu einem Fachinformationsdienst. Das klingt auf den ersten Blick und vor allem für Laien nicht sonderlich dramatisch. Wo genau also liegt das Problem? Was unterscheidet die Sondersammelgebiete vom Fachinformationsdienst?
Prof. Dürr: Zunächst einmal möchte ich mit einigen Worten zu erklären versuchen, was es mit den „Sondersammelgebieten“ (SSG) auf sich hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man in der BRD entschieden, nicht wie in Frankreich oder Großbritannien eine weltweit sammelnde Nationalbibliothek zu errichten, sondern dezentral verschiedene Schwerpunkte zu definieren, in denen dann die international erscheinende Forschungsliteratur möglichst vollständig zu sammeln sei. Danach erhielt etwa die UB Tübingen den Schwerpunkt „Theologie“, die Staats- und Universitätsbibliothek München die „Geschichtswissenschaft“ zugeschrieben. In diesen SSGs sollte mit Mitteln der DFG die international erscheinende Spezialliteratur gekauft werden. Dabei war nach einiger Zeit ein Eigenanteil der jeweiligen Bibliothek von mindestens 25% vorgesehen. In jährlichen Übersichten wurde über die Ankaufspolitik und die Nutzung der Literatur über Fernleihen und Dokumentenlieferung Rechenschaft gegeben. Aus der Sicht der DFG und der Bibliotheken ergaben sich im Laufe der Zeit einige Probleme. Vor allem in den Natur- und Sozialwissenschaften hatte sich die Publikationspraxis nachhaltig geändert. Dort entstand eine immer größere Diskrepanz zwischen dem Informationsangebot und den Bedürfnissen der einzelnen Disziplinen. Der Geschwindigkeit des Durchlaufs von Forschungsergebnissen, die immer häufiger nur digital und/oder in Zeitschriften publiziert werden, stand quasi der Tanker SSG gegenüber, der mit seinem Instrumentarium nicht mehr flexibel genug erschien. Aus Sicht der Geisteswissenschaften, in denen nach wie vor die Monographie einen großen Stellenwert besitzt, gab zu denken, dass wichtige Forschungsbibliotheken wie diejenige in Wolfenbüttel oder Gotha von den SSG-Mitteln ausgeschlossen waren.
Hier kommen nun die verschiedenen Fachkulturen ins Spiel. Als Historikerin werde ich im Folgenden vor allem aus der Perspektive der Geisteswissenschaften sprechen. Ich bin dem Vorsitzenden des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, Martin Schulze Wessel, sehr dankbar, dass er diese Sicht schon einmal in der FAZ vom 8. April 2015 dargelegt hat. Aus der Sicht der Geisteswissenschaften hatte sich das SSG-System bewährt: die SSGs haben die deutschen Forschungsbibliotheken international bedeutsam gemacht. Aus der Perspektive der Geisteswissenschaften ist gerade der Grundsatz der „Vorsorgenden Literaturversorgung“ von Bedeutung. Er ist ein „Luxus“, den die Forscher/innen vermutlich in seiner ganzen Dimension erst zukünftig zu schätzen wissen, wenn es nicht mehr selbstverständlich ist, jedes benötigte Buch in Deutschland vorzufinden und über das Fernleihsystem bekommen zu können.
Es ist nicht einfach, genaue Zahlen darüber zu bekommen, welchen Anteil an dieser komfortablen Situation nun konkret die SSGs hatten. Im DFG-Unterausschuss ‚Überregionale Literaturversorgung‘ geht man davon aus, dass dieser Anteil eher gering war. Es ist so gut wie nicht ermittelbar, welche Bücher in Deutschland tatsächlich nur in einer einzigen Bibliothek vorhanden sind und welche davon mit SSG-Mitteln gekauft worden sind. Auch ist nur ein sehr grober Überblick über nicht erfolgreiche FL-Bestellungen zu erhalten. Fakt ist, dass aus Sicht der meisten Nutzer in den Geisteswissenschaften das SSG-System funktioniert hatte. Es bedarf dann einen größeren Aufwand zu erklären, warum man es abschaffen will und worin die Vorteile des neuen Systems denn nun bestehen würden.
Denn der größte Unterschied zwischen dem SSG- und dem FID-System besteht darin, dass die Sammelgebiete nicht mehr bestimmten Bibliotheken zugewiesen sind, sondern man sich um solche Gebiete bewerben muss, und zwar mit einem eng mit der so genannten Fachcommunity abgestimmten Drei-Jahres-Vorhaben. Eine solche Bewerbung ist grundsätzlich kompetitiv – das heißt: prinzipiell könnten sich mehrere Bibliotheken um dieselben Sammelgebiete bewerben. Das aber kann dazu führen, dass bestimmte Sammelgebiete zunächst von der einen, später von einer anderen Bibliothek gepflegt werden. Die Sammelgebiete sind außerdem nirgends prinzipiell definiert – das heißt: es kann auch Forschungsgebiete geben, um deren Pflege sich keine Bibliothek nachhaltig reißt. So hat es in der Antragsrunde 2014 keinen Antrag für einen FID Psychologie gegeben. Internationale Spezialliteratur zur Psychologie wird nun an keiner Stelle in Deutschland mehr schwerpunktmäßig gesammelt, wie auch Martin Schulze Wessel in dem besagten Artikel festgestellt hat. Wenn im Einzelnen die Vorgeschichte zu dieser „Lücke“ komplizierter sein mag, als es hier erläutert werden kann, bleibt die Feststellung, dass aufgrund der pro-aktiven Antragstellung von Bibliotheken für einzelne FIDs das System grundsätzlich dazu führen kann, dass bestimmte Disziplinen leer ausgehen. Zwar ist gewiss richtig, dass auch ohne SSG Mittel Bücher systematisch angeschafft werden können. Wenn es aber darum geht, über Grundsatzentscheidungen nachzudenken, dann liegt meiner Meinung nach das Problem darin, dass man mit den FIDs die Idee einer schlüssigen Struktur aufgegeben hat. Statt zentral darüber nachzudenken, welche Gebiete bedient werden müssen und diese dann zu verteilen, überlässt man die Pflege der Forschungsfelder der Initiative von Bibliotheken.
Die Idee des FID-Programms besteht darin, dass die Bibliotheken für ein Fach bzw. eine Region ein Konzept erarbeiten, welche Informationsangebote für die Forschung notwendig sind. Sofern dieses Konzept überzeugt und es keine Angebote dieser Art an anderer Stelle gibt, kann ein Fachinformationsdienst gefördert werden. Dies kann in Kontinuität zu den vorausgehenden SSG geschehen, es kann im Extremfall aber auch eine komplette Neuausrichtung bedeuten. Die DFG betont, dass diese Konzepte in engem Austausch mit der so genannten „Fachcommunity“ entwickelt werden sollen. Dies klingt auf den ersten Blick sehr überzeugend, birgt aber doch einige Gefahren mit sich, die sich auch in den ersten Antragsrunden schon bewahrheitet haben. So gibt es in fast allen Fächern unterschiedliche Schulen. Viele Forscher sind außerdem zu sehr in ihren eigenen Forschungsprozess involviert, als dass sie „sine ira et studio“ über den Bedarf in einigen Jahrzehnten oder den Bedarf von ihm oder ihr weit entfernten Forschungsfeldern Aussagen zu treffen in der Lage sind. Schließlich ist vielleicht auch nicht leicht, sich als Gutachter von den Gewohnheiten des DFG-Begutachtungsprozesses zu befreien und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Bibliotheken ja nicht individuelle Forschungsanträge stellen, sondern Anträge zur Errichtung einer Infrastruktur. Abgelehnte Anträge treffen also potentiell das ganze Fach.
Der Hauptunterschied zwischen SSG und FID ist also der, dass man die SSG als Infrastrukturmaßnahmen begriffen hat, deren Qualität sichergestellt werden musste, die aber nicht immer wieder neu begründet werden mussten. Das FID-Programm wiederum ist wie ein normales DFG-Förderprogramm gestaltet: Es werden auf Antrag Projekte zur Einrichtung eines FID gefördert – auf begrenzte Zeit. Allerdings ist sich die DFG dieses Problems auch bewusst. Nach den doch zum Teil großen Startschwierigkeiten einer ganzen Anzahl von FID-Anträgen geht man dort inzwischen davon aus, dass nach einer Übergangszeit auch darüber zu sprechen sein wird, wie Verstetigung erreicht werden kann. Auch mit den FID muss man dann nicht mehr immer das Rad neu erfinden.