L.I.S.A.: In der aktuellen Berichterstattung über den Konflikt um Russland und die Ukraine ist sich der weit überwiegende Teil der Medien sehr schnell darüber einig geworden, wer Feind und wer Freund ist. Gibt es in solchen Fällen Leitmedien, die den Ton anstimmen, dem andere dann folgen? Wie steht es dabei um den publizistischen Meinungspluralismus in westlichen Gesellschaften?
Wiedemann: Ich habe mich oft gefragt, wie diese instinktive Selbstverortung entsteht, die es den meisten Menschen erlaubt, zu komplizierten internationalen Krisen im Handumdrehen eine Meinung zu haben. In diesen Tagen lässt sich lernen, wie ein Echo-Raum entsteht, aus dem es zurückschallt wie hineingerufen wird, in einer Mono-Ton-Qualität, die man für längst vergangen hielt.
Es gibt heute keine Leitmedien mehr in der Art, wie es der SPIEGEL vor 25 Jahren in der alten Bundesrepublik war. Aber es gibt einen Herdentrieb, der wie ein Auto-Pilot funktioniert, vor allem im politischen Journalismus. Der politische Journalismus neigt stets dazu, sich hinweg tragen zu lassen, dorthin wo er eigentlich nicht mehr gebraucht wird, weil da schon alle sind, die auf nicht-journalistische Weise Öffentlichkeit prägen und Stimmungen erzeugen.
Jeder Krieg, jeder Konflikt braucht eine Erzählung, die Gut und Böse definiert, die einordnet, vereinfacht und Interessen bedient. Erst dann setzt sich jene große Maschinerie in Gang, die wie von magischer Hand gesteuert nur noch eine Richtung zu kennen scheint. Der Journalismus ist dabei Täter ebenso wie Opfer.
Denn eigentlich ist es ja heute schwer geworden mit den glatten Erzählungen: Weil die westliche Politik moralische Maßstäbe und völkerrechtliche Grundsätze mit einer geradezu opulenten Widersprüchlichkeit handhabt. Kosovo, Kroatien, Libyen, Ägypten, Südsudan, Mali, Syrien, Zentralafrika: Ob neue Staaten erlaubt sind, ob ein Referendum Gültigkeit hat, ob ein Putsch legitim ist, eine Intervention gerechtfertigt, eine Bombardierung geboten, all dies ist schlicht eine Frage von Interessen.
Es könnte also eigentlich gerade eine gute Zeit sein für unabhängigen Journalismus…. Wir leben, was die Erzählungen betrifft, immer mehr in einer polyzentrischen Welt. Das könnte heilsam sein, weil es die einst globale Macht des westlichen Narrativs beschränkt.