In der Debatte um den Einsatz von Bildern zur Dokumentation oder Visualisierung von Ereignissen wird unter anderem die Position vertreten, Bilder sagten mehr als jedes Wort. Das stellt nicht nur Medienschaffende vor eine große Herausforderung sowie Verantwortung im Umgang mit besonders brisanten und emotional aufgeladenen Bildern, sondern auch Wissenschaftler, die Bilder zum Gegenstand ihrer Forschungen haben. In erster Linie fallen einem im geisteswissenschaftlichen Kontext Kunsthistoriker oder Medienwissenschafter ein. Zunehmend befassen sich aber auch Historiker mit Bildern. Prof. Dr. Gerhard Paul von der Universität Flensburg gehört zu den Pionieren der sogenannten "Visual History". Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Bilder generieren eine eigene Realität"
L.I.S.A.: Herr Professor Paul, Sie gehören zu den renommiertesten Vertretern des Ansatzes der sogenannten „Visual History“. Bei Docupedia.de ist in Ihrem Beitrag zu lesen, „Visual History“ markiere ein Forschungsfeld „…das Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet und sich gleichermaßen mit der Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen befasst.“ Hätten Sie ein konkretes Beispiel, das diesen Anspruch versinnbildlicht?
Prof. Paul: Dass Bilder gerade im audio-visuellen 20. Jahrhundert eine wichtige Quelle und ein wichtiger Gegenstand der historiografischen Forschung neben Texten sind, ergibt sich aus der Geschichte dieses Jahrhunderts von selbst, denken Sie nur an den Nationalsozialismus, der ohne die von ihm produzierten Bilderwelten schlichtweg nicht zu begreifen ist. Allerdings hat es vergleichsweise lange gedauert, bis diese letztlich simple Erkenntnis bei den textverliebten Zeithistorikern angekommen ist. Bei den Mediävisten war das schon immer anders. Wichtig aber ist, dass Bilder nicht nur als Quellen für etwas benutzt werden, sondern dass Visualität in einem breiten Sinne als Einzelbild, Bilderserie, Bildpraxis, Bildpolitik usf. selbst zum Gegenstand historiografischer Forschung gemacht wird. Das passiert noch immer eher selten.
Meine These ist, die ich in meinem Buch „Punkt & Pixel. Das visuelle Zeitalter“ entwickle, dass sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts neben der physischen Welt, in der wir leben, eine visuelle Welt, gleichsam eine „zweite Realität“, herausgebildet hat, in der wir uns orientieren und Entscheidungen treffen. Für diese zweite Welt, die sich im 20. Jahrhundert zunehmend über die erste Welt gelegt und diese zum Teil substituiert hat, gibt es eigene Regeln und Gesetze, die es zu begreifen gilt. Aus der Perspektive dieses Ansatzes war der Kalte Krieg zwischen Ost und West so immer auch ein Krieg der Bilder. Vielfach sickerten erst über Bilder die Denkmuster des Kalten Krieges in die Köpfe der Zeitgenossen ein. Aus dieser Perspektive war auch die Mauer durch Berlin nicht nur ein militärisches Sperrwerk, sondern ebenso ein Bild, das vielleicht handlungsrelevanter war als die physische Mauer selbst und daher ein Faktor des historischen Prozesses ist. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Moderne Kriege sind zunehmend Bilderkriege, die eine eigene Macht entfalteten. Hunderttausende Menschen mussten so etwa 1945 in Hiroshima und Nagasaki nur deshalb sterben, um der Sowjetunion ein gewaltiges Bild des Ereignisses zu liefern und die Wirksamkeit der Waffe zu demonstrieren. Es waren genau diese Bilder, die eine in der Geschichte der Menschheit beispiellose Aufrüstungsspirale in Gang setzten. Ähnliches geschah am 11. September 2001 in New York. Bilder generierten auch hier eine eigene Realität, auf die wir reagierten: eine „9/11-reality“, die zum Teil wichtiger wurde als das Ereignis selbst.
Neben der Visualität der Geschichte befasst sich die „Visual History“ zunehmend auch mit der Geschichte der Visualität: mit der rasanten Geschichte der Bildmedien, mit der Entstehung immer neuer Bilderwelten, mit der Durchdringung von Gesellschaften durch Bildproduktionen und der Änderung von Blickroutinen und Wahrnehmungsweisen. „Visual History“ ist ein breites und äußerst spannendes Forschungsfeld geworden.