Im Jahr 1915 wird im US-Bundesstaat Georgia ein Fabrikbesitzer von einem Lynchmob ermordet. Und auch wenn das Lynchen zu dieser Zeit zum rassistischen Alltag des US-Südens gehörte, stellt dieser Mord eine Besonderheit dar: Denn das Opfer war nicht afroamerikanischer Herkunft, sondern Jude. Kristoff Kerl hat sich in seiner Dissertation mit der Vorgeschichte des Mordes beschäftigt und untersucht die Verschränkungen von Antisemitismus und Geschlecht. Im Interview haben wir nach Konzepten der Männlichkeit, vor allem der Krise der sogenannten Farmermännlichkeit gefragt. Außerdem spricht Kerl über die Rolle des wiedergegründeten Ku Klux Klans und die Unterschiede des Rassismus gegen Juden und Afroamerikaner.
"Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen für antisemitische Diskurse"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kerl, in ihrer jüngst erschienenen Dissertation widmen Sie sich dem Themenfeld Männlichkeit und moderner Antisemitismus in den Südstaaten der USA. Sie verknüpfen also Gender-Theorie mit Antisemitismusforschung. Bevor wir inhaltlich einsteigen, wie wichtig ist die Kategorie Geschlecht für historische Analysen des Antisemitismus?
Dr. Kerl: Das ist eine Frage, die sich pauschal schwer beantworten lässt. Die Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen für antisemitische Diskurse variiert mit dem Zeitraum und der Region, die in den Blick genommen werden und damit mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und den hegemonialen Geschlechterkonfigurationen. Dennoch lässt sich generell festhalten, dass antisemitische Diskurse häufig mit Wahrnehmungen und Vorstellungen von einer Krise des dominanten Geschlechterverhältnisses im Allgemeinen und einer Krise hegemonialer Männlichkeit im Besonderen verflochten waren und sind. Juden wurden in antisemitischen Diskursen als Triebkräfte des Aufstiegs und der Durchsetzung einer kapitalistischen Moderne konstruiert. Damit wurden sie mit diversen Aspekten einer industriell-kapitalistischen Gesellschaftsformation in Verbindung gesetzt, die als fundamentale Gefahr für den Erhalt der gesellschaftlichen Moral sowie der vermeintlich ‚natürlichen‘ Geschlechterordnung galten. Sehr deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang zwischen der Kategorie Geschlecht und Antisemitismus zum Beispiel in der antisemitischen Figur des „jüdischen Perversen“ oder auch in der Figur der schönen und verführerischen Jüdin.
Um den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Antisemitismus theoretisch zu durchdringen, habe ich auf das in den 1980er Jahren von der afroamerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw entwickelte Konzept der Intersektionalität zurückgegriffen. Die Grundannahme dieses Konzeptes besagt, dass unterschiedliche gesellschaftliche Machtachsen wie Geschlecht, Klasse, Race, Sexualität, (Dis-)Ability, usw. miteinander verwoben sind. Kategorien wie Geschlecht entwickeln also keine separat, sondern immer nur in Interaktion mit anderen Machtachsen zu analysierenden Effekte.
So brachten die Wechselwirkungen zwischen Judesein und Mannsein im antisemitischen Diskurs der westlichen Gesellschaften eine ganz spezifische Subjektkonfiguration hervor, die auch während des in meiner Arbeit zentralen Leo-Frank-Case eine immense Wirkmacht entfaltete. Das Attribut Judesein modifizierte dabei das Mannsein und es entstand die Vorstellung vom effeminierten jüdischen Mann. Allerdings waren innerhalb des antisemitischen Diskurses nicht nur Geschlecht und Race, sondern auch Kategorien wie Sexualität und Klasse im jüdischen Subjekttypus miteinander verwoben.
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ich finde die Kritik an Herrn Weghorn zu persönlich ohne auf die Fakten einzugehen. Worte wie Hirngespinste, Verschwörungstheorien, Antisemitismus usw. , diese Worte haben nach der Epstein Affäre nur noch einen bitteren Beiklang.
Ich habe die Bücher von der NOI, von Mary Phagan Kean und auch das von Herrn Kerl gelesen.
Ich finde das Buch von Herrn Kerl mit Abstand das Schlechteste, obwohl es angeblich (was ich mir nicht vorstellen kann) sogar eine Dissertation sein soll.
Für mich ist es nur eine Apalogie eines Kindermoerders. Unfassbar was heute in den Geisteswissenschaften los ist.
Es gab bis zum Fall Frank keinen nennenswerten Antisemitismus, im Gegenteil gab es einen südlichen christlichen Philosemitismus.
Im Bürgerkrieg war der Schatzmeister der Südstaaten-Armee ein Jude oder?
Wieso ist dieser 100 Jahre alte Fall für jüdische Gruppen heutzutage noch so wichtig das sie ihn auf Teufel komm raus freisprechen wollen...
Das ist die wirklich interessante Frage.
MfG
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Diese distanzierten Attribuierungen - "galten, attribuiert, konstruiert" - bezüglich der genannten Eigenschaften von Juden verstehe ich als Kerls Kritik an den Yeomen, so, als wolle er damit den Südstaatlern ein falsches Bewusstsein von der Wirklichkeit nachsagen oder unterstellen.
Was aber, wenn die Karikatur von Watson Heston, „History Repeats Itself,” der Realität entsprochen hätte?!
Meine Fragen:
Haben Sie, Herr Dr. Kerl, die politisch-ökonomischen Aussagen über die von den Südstaatlern kritisierten Juden und Politiker (siehe Karikatur) auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft, oder vertreten Sie wirklich die Auffassung vom Opferstatus dieser Gruppierungen?
Gab es das ausbeuterische Verhalten dieser Gruppierungen in Wirklichkeit - oder hat sich Heston diese Ausbeutung nur ausgedacht?!
Entspricht es nicht den Tatsachen, dass die Vermögensverteilung in den USA genau in diesem Zeitraum von himmelschreiender "Ungerechtigkeit" gewesen ist, und dass nicht nur die Yeomen an ihrem - doch ehrenwerten - Selbstverständnis als "Ernährer der Familie" aus strukturell-funktional erklärbaren Gründen haben zweifeln müssen?!
Ich würde Ihre Parteinahme für Leo Frank als "Opfer" einer patriarchalischen Mentalität der Yeomen als Resultat eines Vorurteils beurteilen, weil der Klassenlage der Kritisierten nicht die führende Rolle in der Erklärung ihrer Mentalität zugekommen wäre: "erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!" (BB)