Das europäische Migrationssystem ist im Verlauf der großen Fluchtbewegungen aus den Kriegs- und Krisengebieten in Nordafrika sowie dem Mittleren und Nahen Osten nicht nur unter Druck geraten, sondern hat insgesamt versagt. Aufgrund der als massiv empfundenen Zuwanderung und den dadurch ausgelösten Katastrophenimaginationen sahen die europäischen Staaten sich veranlasst, ihre Grenzregime auszubauen und deutlich zu verschärfen. Mit der Folge, dass sich für Flüchtlinge diese neu geschaffenen Grenzräume zu dauerhaften Aufenthaltsräumen verfestigt haben, verbunden mit oftmals unklarem rechtlichen und politischen Status. Die daraus entstehenden Konflikte und Herausforderungen für die europäischen Staaten sind nach wie vor ungelöst. Die Politikwissenschaftlerin PD Dr. Julia Schulze Wessel von der Technischen Universität Dresden hat die Grenzsituation von Flüchtlingen im gegenwärtigen Europa unter besonderer Berücksichtigung der Reflektionen von Hannah Arendt und Giorgio Agamben untersucht und darüber ein Buch geschrieben. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Das europäische Migrationsmanagement hat versagt"
L.I.S.A. Frau Dr. Schulze Wessel, Sie haben selbst die Flüchtlingskrise der letzten Jahre sowie die Fluchtbewegungen der 90er-Jahre miterlebt. Hannah Arendt, deren Werk zu Flüchtlingen einen großen Teil ihrer Arbeit bestimmt, bezieht sich vor allem auf die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der frühen Nachkriegszeit der 50er Jahre. Hat Sie auch gerade diese andere Perspektive auf das Subjekt „Flüchtling“ bei der Themenwahl inspiriert? Was brachte Sie dazu, dieses Buch zu schreiben?
Dr. Schulze Wessel: Zunächst würde ich gerne etwas zum Begriff der 'Flüchtlingskrise' sagen, der sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit als Terminus für die Situation 2015/2016 durchgesetzt hat. Der Begriff 'Krise' bezieht sich ganz offenbar nicht auf die Flüchtlinge. Er kritisiert weder die heute immer unzureichender werdenden Flüchtlingseigenschaften, die zum Erhalt spezifischer Rechte führt, noch bezieht er sich auf die Situation der Flüchtlinge, die weltweit schwieriger und dramatischer wird. Was in dieser Zeit in der Tat in die Krise gekommen ist, ist das europäische Migrationsmanagement, weil hier genau die Mechanismen versagt haben, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten intensiv verfolgt und aufgebaut werden, um möglichst viele Menschen von dem Weg nach Europa abzuhalten.
Nun aber zur Ihrer Frage:
Inspiriert worden, über das Thema von (undokumentierter) Flucht weiter nachzudenken, bin ich über die Schriften Hannah Arendts. Wie niemand anderes hat sie das Thema ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit der totalen Herrschaft gesetzt. Und sie hat sie auch später immer wieder begleitet. Hannah Arendts gesamte politische Theorie kann man von diesem Thema her ableiten. Die Frage, wie politische Gemeinschaften auf Flüchtlinge reagieren, kann mit ihr nicht als eine Frage unter anderen verstanden werden, sondern sie gehört in das Zentrum des Nachdenkens über die Beschaffenheit einer politischen Ordnung.
Aber in der Diskussion um Arendt, ihr Flüchtlingskapitel und der heutigen Situation von Flüchtlingen fiel mir auf, dass nach der radikalen Einschränkung des Asylrechts 1993 und der Europäisierung der Migrations- und Flüchtlingspolitik die Situation von (undokumentierten) Flüchtlingen mit Begriffen und Kategorien von Arendt gefasst wurden. Aber Arendt hatte vor dem Hintergrund der totalen Herrschaft geschrieben und heute finden die Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Demokratien statt. Das war die Irritation, die mich zu der intensiveren Beschäftigung mit dem Thema geführt hat.