Das aktuelle Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ (2/2022), herausgegeben von Sebastian Barsch, Elsbeth Bösl, Gabriele Lingelbach und Raphael Rössel, bietet neue Perspektiven und methodische Impulse zum Leitthema „Disability History“. (Der englische Begriff hat sich auch im deutschsprachigen Raum etabliert.) Die Texte des Themenheftes zeigen die Bandbreite der Disability History innerhalb der Zeitgeschichte und tragen damit zu einer historischen Fundierung der interdisziplinären Disability Studies bei.
Markant sind die aktivistischen Ursprünge des Forschungsfeldes, denen viele Wissenschaftler:innen weiterhin folgen. Doch ist die Disability History im Grunde anschlussfähig an alle Teilbereiche und Zugänge der Geschichtswissenschaft, wie in der Einleitung näher erläutert wird (Sebastian Barsch/Elsbeth Bösl). Die Disability History kann das Spektrum historiographischer Ansätze erweitern, als Korrektiv bisheriger Meistererzählungen über die soziokulturellen Dynamiken der jüngeren Vergangenheit dienen und sowohl Teil-Geschichte sein als auch ein neuer umfassender Zugang zur Erforschung historischer Gesellschaften und Kulturen. Bei allen Kontroversen über die heuristische Reichweite dieses Begriffs wird „Behinderung“ als kontingent und historisch verstanden. Die Geschichtswissenschaft als gesellschaftliche Reflexionsinstanz hat zudem die Aufgabe, gerade auch das System Wissenschaft in den Blick zu nehmen, das nicht nur zahlreiche Exklusionsmechanismen aufweist, sondern zugleich maßgeblich an der Definition und Konstitution von Behinderung beteiligt ist.
Die Beiträge des Themenheftes beleuchten das Innovationspotential der Disability History teils anhand empirischer Beispiele, teils auf theoretischer Ebene. Ein Aufsatz über veröffentlichte Ego-Dokumente ehemaliger US-amerikanischer Anstaltsinsassen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbindet Disability History und Mad Studies; so werden die Nervenheilanstalten als Räume intensiver Kommunikation kenntlich (Michael Rembis). Anhand der Werke des US-amerikanischen Psychologen Harlan Lane werden mögliche Bezüge zwischen Disability History und Postcolonial Studies diskutiert (Esme Cleall): Sind Gehörlose vielleicht keine „Behinderten“, sondern eine ethnische, sprachliche, kulturelle Minderheit? In weiteren Fallstudien geht es um den Aktivismus gehörloser Industriearbeiter:innen der 1930er-Jahre in der UdSSR (Claire Shaw), um Wohnen, Arbeit und Urlaub von Menschen mit Behinderungen in der DDR (Ulrike Winkler, Gabriele Lingelbach/Raphael Rössel) sowie um Rollstühle als materielle Quellen für eine Zeitgeschichte der Mensch-Ding-Beziehungen und der Interessenartikulation im öffentlichen Raum (Nicholas Watson). Deutlich wird, dass trotz systemspezifischer Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“ auch viele Gemeinsamkeiten bestanden, zum Beispiel im Hinblick auf städtebauliche Barrieren oder geschlechtsspezifische Aufgabenverteilungen der Care-Arbeit. In theoretisch-methodischer Hinsicht werden die Möglichkeiten einer intersektionalen Disability History (Sebastian Schlund) und die gleichsam umgedrehte Perspektive einer Critical Ability History (Nina Mackert) diskutiert. Zu fragen ist nicht nur nach Formen von „Behinderung“ und deren Verhältnis zu anderen Strukturkategorien sozialer Ungleichheit, sondern ebenso nach Prämissen und Prozessen von „Befähigung“ im historischen Wandel.
Konkret wird dies gerade anhand einzelner Quellen und Quellengruppen wie den Eingaben in der DDR, die viele alltägliche Hindernisse im Leben von Menschen mit Behinderungen aufscheinen lassen, aber auch spezifische Strategien verdeutlichen, dies gegenüber Entscheidungsträgern in Staat und Partei kritisch zu artikulieren (Pia Schmüser). Für die Bundesrepublik wiederum ist die ZDF-Fernsehserie „Unser Walter“ von 1974 ein aufschlussreiches Dokument: Einerseits wies die Serie in neuartiger Form auf die Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 hin, andererseits propagierte sie eine geschlechterkonservative „Familiarisierung von Behinderungen“ (Raphael Rössel).
Als „Extra“ außerhalb des Themenschwerpunkts enthält das Heft in der Rubrik „Neu gelesen“ einen Beitrag von Philipp Sarasin über Joseph Weizenbaums Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ (1976 auf Englisch, 1978 auf Deutsch erschienen). Am 8. Januar 2023 wäre Weizenbaum, der 2008 verstarb, 100 Jahre alt geworden. Als Informatiker am Massachusetts Institute of Technology und zugleich als Kritiker bestimmter Computerisierungs-Utopien fand er seit den 1960er-Jahren eine große Aufmerksamkeit. Das genannte Buch allerdings ist nach Sarasins Eindruck „schlecht gealtert“.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (seit dem Heft 1/2021 unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autor:innen finden sich auf unserer Website. Wir sind sehr interessiert daran, Diskussionszusammenhänge aus Themenheften in späteren „offenen“ Heften fortzuführen (vgl. das Heftarchiv). Generell sind aber Vorschläge zum gesamten Spektrum der Zeitgeschichte möglich.