Kapitalflucht und die Abwanderung der besten Köpfe sind der Alptraum einer jeden nationalen Regierung. Um das zu verhindern, müssen Bedingungen geschaffen werden, um die Wirtschaftseliten, die sich längst aus nationalen Zusammenhängen gelöst haben und sich unter ihresgleichen am wohlsten fühlen, zum Verbleib zu motivieren, so das sich regelmäßig wiederholende Argument in der sogenannten Standortdebatte. Gibt man das Stichwort Standortdebatte in Suchmaschinen ein, erscheinen zig Medienbeiträge, in denen vor der Verlagerung von Kapital, Eliten und Produktion ins Ausland gewarnt wird. Wirtschaftseliten seien nämlich äußerst mobil und operierten am liebsten global. Der Soziologe und Eliteforscher Prof. Dr. Michael Hartmann von der Technischen Universität Darmstadt hält dagegen: Die Existenz einer globalen Elite ist eine Legende, so die These in seinem neuesten Buch. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Von einer globalen Wirtschaftselite ist nichts zu sehen"
L.I.S.A.: Herr Professor Hartmann, Sie haben ein Buch über die globale Wirtschaftselite geschrieben, deren Existenz Sie gleich schon im Untertitel als Legende bezeichnen. Bevor wir auf Einzelheiten eingehen, warum dieses Buch? Welche Beobachtung ging dem voraus?
Prof. Hartmann: Ausgangspunkt war wie oft bei mir eine politische Frage, die der wachsenden Kluft bei den Einkommen. Als in der zweiten Hälfte der 1990er die Gehälter der Topmanager in Deutschland so rasant zu steigen begannen, wurde das öffentlich stets damit begründet, dass man nur so in der heftigen weltweiten Konkurrenz um die Spitzenkräfte mithalten könne. Da ich das Milieu recht gut kannte und den Eindruck hatte, dass diese Behauptung nicht der Wirklichkeit entsprach, habe ich begonnen, das empirisch zu überprüfen, zunächst nur für die drei großen europäischen Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien, später dann auch für die USA, Italien, Spanien, Japan und China. Das Ergebnis der Forschungen hat meine Vermutung bestätigt. Es gab diesen weltweiten Markt nicht. Schließlich habe ich dann 2015/2016, um Einwänden gegen die begrenzte Auswahl an Staaten zu begegnen und weil das Argument mit dem globalen Markt bis heute wiederholt wird, zuletzt vor wenigen Wochen vom SAP-Vorstandschef McDermott und vom Aufsichtsratsvorsitzenden der Lufthansa, das Topmanagement der 1000 größten Unternehmen der gesamten Welt untersucht, also inklusive Ländern wie Russland, Indien, Brasilien, Kanada oder Australien. Das Resultat war dasselbe wie schon zuvor. Gerade einmal zehn Prozent dieser Konzerne werden von einem Ausländer geleitet. Von den einheimischen Topmanagern verfügt nicht einmal ein Viertel über längere Auslandserfahrung, d.h. einen mindestens sechsmonatigen Auslandsaufenthalt am Stück. Sieben von zehn haben ihr gesamtes Leben von der Geburt bis in ihre heutige Position in ihrem Heimatland verbracht. Von einer globalen Wirtschaftselite ist nichts zu sehen.