Dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur leisteten und dabei die größten Verluste zu verzeichnen hatten, ist heute weitgehend unbekannt. Arbeiterinnen und Arbeiter verschiedener Berufe, wie beispielsweise Metaller und Eisenbahner, aber auch unterschiedlicher politischer Gesinnung, darunter vor allem Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten, widersetzten sich der nationalsozialistischen Entmachtung und Gleichschaltung der vielfältigen Gewerkschaftskultur der Weimarer Republik. Welche Formen der Widerstand genau annahm, wer ihn organisierte und wie er heute erinnert wird, dazu haben wir Dr. Stefan Heinz vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin unsere Fragen gestellt.
"Arbeiterwiderstand hatte die größten Verluste zu beklagen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Heinz, gemeinsam mit Prof. Dr. Siegfried Mielke erforschen Sie den gewerkschaftlichen Widerstand gegen das NS-Regime. Denkt man an deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, fallen einem in der Regel der 20. Juli 1944, die Weiße Rose und vielleicht noch die Edelweißpiraten ein. An Gewerkschafter denkt man dabei eher nicht. Wie kam es bei Ihnen zu dieser Schwerpunktsetzung?
Dr. Heinz: Ihre Frage zeigt, wie wenig der Gewerkschaftswiderstand in der öffentlichen Erinnerung präsent ist. Der vielfältige Arbeiterwiderstand gegen das NS-Regime - darin der Widerstand von Gewerkschaftern/innen eingeschlossen - war umfangreich. Arbeiterwiderstand wies eine erhebliche Kontinuität auf und hatte die größten Verluste zu beklagen. Wahrscheinlich sind sogar weit mehr als zwei Drittel der Menschen, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 Widerstand leisteten, dem Arbeiterwiderstand zuzuordnen. Nach einer gewissen Konjunktur in den 1970er und 1980er Jahren und einer anschließenden jahrelangen Flaute wächst wieder das Interesse, sich mit Arbeiter- bzw. Gewerkschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert insgesamt auseinanderzusetzen. Dennoch ist eine große Zahl der Gewerkschafter/innen, die während der NS-Herrschaft Widerstand leisteten und verfolgt wurden, in Vergessenheit geraten. Die Folgen des „Anpassungskurses“ der Verbände des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) im Frühjahr 1933 führten lange Zeit zur Annahme, es habe kaum Gewerkschaftswiderstand gegeben. In den Verbänden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hat man sich regelrecht geschämt angesichts des als „Versagen“ und „Schmach“ empfundenen Verhaltens der Vorläuferorganisation ADGB im Frühjahr 1933.
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vielen Dank für Ihre Frage, auf die ich erst jetzt aufmerksam gemacht wurde.
Bitte schreiben Sie mir eine Mail an stefan.heinz[at]fu-berlin.de
Dann kann ich Ihnen die Biografie Ihres Großvaters Willy Rößler, die Jürgen Taege und ich vor über zehn Jahren geschrieben haben, mailen.
Insgesamt ist die Erinnerung an den Gewerkschaftswiderstand gegen das NS-Regime in der bundesdeutschen Erinnerungskultur nach wie vor nicht sonderlich ausgeprägt, weshalb Menschen wie Willy Rößler heutzutage nicht besonders bekannt sind. Ein paar Erklärungsansätze zur zweiten Frage finden Sie in dem obigen Interview.
Hier zudem ein Auszug aus der Biografie, der Ihre erste Frage beantworten müsste:
/// [...] Trotz desillusionierender Erfahrungen blieb Willy Rößler nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED im April 1946 mehrere Jahre Mitglied der SED. Im Februar 1946 wurde er auf Vorschlag des FDGB vom Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Erhard Hübner, der Mitglied der Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP) und einziger nicht-kommunistischer Regierungschef in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war, zum Arbeitsrichter für den Halle-Saalkreis berufen. Da die SED bald versuchte, auf Rößlers Urteile Einfluss zu nehmen, kam es zum offenen Konflikt mit der Parteiführung. Um den Druck auf ihn und andere Arbeitsrichter zu erhöhen, wurde sogar die SMAD eingeschaltet. Rößler schrieb Anfang 1949 kurz nach seiner Flucht nach Berlin (West): „Seit etwa einem Jahr begann die Hetze gegen die Arbeitsgerichte im allgemeinen und gegen das Arbeitsgericht Halle-Saalkreis im besonderen. Die SED hat gegen verschiedene Urteile des Arbeitsgerichts […] die SMA [gemeint ist die regionale Sowjetische Militäradministration; die Verf.] mobil gemacht. Ich wurde deswegen von ihr zur Rede gestellt. Darüber hinaus hat die deutsche Wirtschaftskommission in Berlin mehrfach und auf deren Veranlassung sogar die OSMA [gemeint ist die SMAD; die Verf.] in Karlshorst einmal zum Schaden des Klägers eingegriffen. Nunmehr tritt die SED offen und diktatorisch hervor […].“ Es hatte sich nach Meinung von Willy Rößler ein unhaltbarer Zustand entwickelt, gerade weil die von ihm gefällten Urteile in höherer Instanz vom Landesarbeitsgericht bestätigt wurden und diese Entscheidungen „vom fortschrittlich sozialen Geist“ geprägt waren. Hinzu kam, dass Rößler wegen einer Reihe von kritischen Äußerungen zur SED-Politik und zur sowjetischen Besatzungspolitik von einem Kollegen denunziert worden war, so dass er schließlich aus der Partei ausgeschlossen wurde und sich „jeden Augenblick“ einem Zugriff des sowjetischen Geheimdienstes NKWD ausgesetzt fühlte.
Mitte Februar 1949 entschlossen sich Willy Rößler und seine Ehefrau zur Flucht. Über Berlin, wo die beiden einige Tage bei Alwin Brandes verweilten, reisten sie mit dessen Unterstützung in die Gemeinde Rummenohl in der Nähe von Hagen im östlichen Ruhrgebiet. Das gesamte Mobiliar hatten sie in Halle zurücklassen müssen. In einem letzten Schreiben an seinen früheren Arbeitgeber erklärte Rößler, seine Urteile hätten nicht dem „Herr-im-Hause-Standpunkt“ derer entsprochen, „die heute in den Betrieben und bei den Behörden an leitender Stelle stehen und sich Sozialisten nennen“. Weiter schrieb er in dem als Kündigung formulierten Brief: „Von den Arbeitsrichtern verlangt man, dass sie zweierlei Recht sprechen. Die Arbeitnehmer der volkseigenen Betriebe und denen von der SED beherrschten Behörden sollen minderen Rechts als wie die Arbeitnehmer der Privatindustrien sein, wobei das Recht nach der jeweiligen Parteizugehörigkeit wieder unterteilt werden soll.“ Rößler war der Meinung, die SED habe eine politische Diskreditierungskampagne gegen ihn eingeleitet, da ihn die Partei wegen seiner Rechtssprechung nicht habe zu Fall bringen können. Das Schreiben schloss mit folgenden Worten: „Nachdem ich unter der Naziherrschaft 10 Jahre und 3 Monate im Zuchthaus und KZ’s verbracht habe, dürfte es auch dem Arbeitsministerium verständlich sein, wenn ich flüchtig geworden bin, da ich keine Lust habe, in den Gefängnissen des NKWD zugrunde zu gehen. Ich hoffe, dass ich im Westen die Möglichkeit habe, mich frei zu entfalten und wie bisher für die Interessen der Arbeitnehmer einsetzen zu können.“ [...] ///
Auszug aus der Biografie:
Stefan Heinz/Jürgen Taege: Willy Rößler (1884–1959), in: Siegfried Mielke/Stefan Heinz (Hrsg.): Funktionäre des Deutschen Metallarbeiterverbandes im NS-Staat. Widerstand und Verfolgung, Metropol-Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-86331-059-2, S. 75–102.
Hier finden Sie auch einen ganz guten biografischen Abriss bei wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_R%C3%B6%C3%9Fler
Mit besten Grüßen,
Stefan Heinz
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Wahrscheinlich lag der Fokus der Geschichtsschreibung tatsächlich auch zu lange auf der obersten Führungsebene und allein auf dem ADGB (bzw. in der DDR-Geschichtsschreibung auf der KPD), so dass Teile des gewerkschaftlichen Widerstands aus dem Blick gerieten. Ich frage mich, ob dazu nicht auch beitrug, dass das Gros der Gewerkschafter im Exil nach 1945 im Nachkriegsdeutschland nicht Fuß fassen und daher auch das Gedenken an ihre eigene Leistung kaum beeinflussen konnte. Ausgehend von den Publikationen der Landesgruppe schwedischer Gewerkschafter schien es mir, dass die Mehrheit der gewerkschaftlichen Exilanten 1945ff nicht nur deswegen frustriert war, weil sich ihre Pläne im Nachkriegsdeutschland u.a. aufgrund des Widerstands der Alliierten kaum umsetzen ließen. Vielmehr vor allem deswegen, weil sie bei den in Deutschland gebliebenen Genossen, die in der Zeit des NS völlig andere Erfahrungen gemacht hatten als die Exilanten, keinerlei Unterstützung oder auch nur Interesse fanden. Einige (wenige?!) nennenswerte Ausnahmen wie Fritz Tarnow bestätigen vielleicht diese Regel.
Interessant wäre darüber hinaus auch noch eine Einordnung in dern internationalen Kontext, wie z.B. mit dem Arbeiterwiderstand in Österreich.