Die im Wintersemester 2023/24 durchgeführte Vorlesung über Griechen in Sizilien und Unteritalien gab Gelegenheit, mit den Studierenden nicht nur den eigentlichen Gegenstand, sondern auch über Bedingungen archäologischen Arbeitens zu diskutieren. Es gibt die geläufige Unterscheidung zwischen historischer und prähistorischer Archäologie: nur erstere verfügt neben archäologischen auch über schriftliche Quellen. Tatsächlich liegen aber auch in der Klassischen Archäologie mit ihrem großen Bestand an antiken Texten historisches Hell und Dunkel nah beieinander. Die Tempel im unteritalischen Poseidonia (später Paestum), mit deren ästhetischer Eigenart schon Goethe gerungen hat, sind heute bis auf kleinste Werte exakt vermessen, ihre Entwürfe sind analysiert, ihr Platz in der Architekturgeschichte der archaischen und klassischen Epoche genau bestimmt (siehe Abbildung). Und doch könnten wir Brechts lesenden Arbeiter nicht zufriedenstellen. Eigentliches Wissen über die Erbauer fehlt fast ganz. Die Gräber der Zeit sind im Vergleich zu den Kosten für die Tempel ärmlich: Haben die Leute von Poseidonia, zu dessen Geschichte es so gut wie keine Nachrichten gibt, so viel für ihre Prachtbauten aufgewendet, dass ihnen für sich selbst nicht viel blieb? Auch die elementare Frage, warum es in einem Heiligtum gleich zwei Tempel gab, lässt sich nicht befriedigend beantworten.
Die großen Fehlstellen, die überall bestehen, sind Chance und Risiko für die Archäologie zugleich. Sie steht, wie alle Geisteswissenschaften, in einer permanenten Konkurrenz um materielle und immaterielle Güter, Geld und Aufmerksamkeit. Wir profitieren davon, dass jede Gegenwart Fragen aufwirft, welche die vorige Generation bei der Interpretation archäologischer Zeugnisse noch nicht im Blick hatte. Zugleich gibt es die Verlockung, beim Ausfüllen der Fehlstellen an die Stärkung der Relevanz des Faches für die Öffentlichkeit zu denken und attraktive Resultate auf nur halb fester Basis zu liefern. Archäologische „Resilienzforschung“ empfiehlt sich als Politikberatung, Untersuchungen am Zahnstein steinzeitlicher Skelette liefern Anstöße für die Ernährungsdebatte der Gegenwart („Waren die Neandertaler Vegetarier?“).
In den Jahren um 400 v.Chr. wurden die italischen Lukaner neue „Herren“ der Stadt, vielleicht ein friedlicher Übergang, auch hierzu fehlen zuverlässige Nachrichten; eine vereinzelte Textstelle spricht von erzwungener kultureller Assimilation der griechischen Bevölkerung[1]. Viele Gräber sind jetzt reich ausgestattet, Malereien zeigen Männer und Frauen bei verschiedenen Handlungen im Zusammenhang mit Tod und Bestattung. Bildelemente lukanischer und griechischer Prägung, dazu Grabvasen mit Darstellungen griechischer Mythen, suggerieren ein einträchtiges Nebeneinander alter und neuer Bevölkerungsanteile. Die Vorstellung von multikulturellem Zusammenleben käme unseren modernen Erwartungen entgegen. Die Archäologie hat das Potential, jedem Einzelnen vielfältige Fragen zu stellen, die Forderung, Orientierung in gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart zu geben, sollte man nicht an sie stellen.
Hinweis: Wo sind diese wunderschönen Tempel gelegen? Hier.
English version
Familiar strangers
The lecture on Greeks in Sicily and Lower Italy in the winter semester 2023/24 provided the opportunity to discuss with the students not only the actual subject matter, but also the conditions of archaeological work. There is a common distinction between historical and prehistoric archaeology: only the former has written sources in addition to archaeological ones. In classical archaeology, however, with its large stock of ancient texts, historical light and darkness lie close together. The temples in Poseidonia (later Paestum) in Lower Italy, whose aesthetic idiosyncrasy Goethe already wrestled with, have today been precisely measured down to the smallest detail, their designs analysed and their place in the architectural history of the archaic and classical periods precisely determined (see illustration). And yet we could not satisfy Brecht's reading labourer. Actual knowledge about the builders is almost completely missing. The tombs of the period are poor in relation to the expense of the temples: did the people of Poseidonia, about whose history there is virtually no information, spend so much on their magnificent buildings that they did not have much left for themselves? The elementary question of why there were two temples in one sanctuary cannot be answered satisfactorily either.
The large gaps that exist everywhere are both an opportunity and a risk for archaeology. Like all humanities, it is in permanent competition for material and immaterial assets, money and attention. We benefit from the fact that every present raises questions that the previous generation did not yet have in mind when interpreting archaeological evidence. At the same time, it is tempting to think of filling in the gaps by strengthening the relevance of the discipline for the public and delivering attractive results on only a semi-solid basis. Archaeological "resilience research" is recommended as policy advice, while studies on the tartar of Stone Age skeletons provide impetus for the nutritional debate of the present ("Were the Neanderthals vegetarians?").
In the years around 400 BC, the Italic Lucanians became the new "masters" of the city, perhaps a peaceful transition, although there is no reliable information on this either; an isolated passage speaks of the forced cultural assimilation of the Greek population[1]. Many tombs are now richly decorated, with paintings depicting men and women performing various acts in connection with death and burial. Pictorial elements of Lucanian and Greek character, as well as burial vases with depictions of Greek myths, suggest a harmonious coexistence of old and new population groups. The idea of multicultural coexistence would fulfil our modern expectations. Archaeology has the potential to pose a variety of questions to each and every one of us, but it should not be asked to provide guidance on contemporary social issues.
Where are these beautiful temples located? Here.
The L.I.S.A. editorial team was responsible for the translation into English.