L.I.S.A.: Sie untersuchen in Ihrer Arbeit konservative Eliten und deren Organisationen. Was eint die verschiedenen Zirkel? Was macht sie zu Konservativen? Sind es Werte, Überzeugungen oder ganz pragmatische Politikansätze? Welche Konzeption liegt beispielsweise der Vorstellung „Abendland“ zugrunde? Welche Rolle spielt dabei vor allem der Kommunismus bzw. Antikommunismus?
Prof. Großmann: Die von mir untersuchten „Elitenzirkel“ – also insbesondere das „Centre Européen de Documentation et d’Information“ (CEDI), das „Institut d’Études Politiques de Vaduz“ und der sogenannte „Cercle“ – waren durch personelle Überschneidungen eng miteinander verflochten. Ihre Mitglieder rekrutierten sich aus ganz Westeuropa, teilweise sogar aus den USA. Sie hatten in der Regel eine bedeutende Funktion im politischen, wirtschaftlichen, militärischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Leben inne – wenngleich nicht immer in der vordersten Reihe. Sie legten großen Wert auf den „privaten“ und freundschaftlichen Charakter ihrer Zusammenkünfte. Vor allem aber sahen und bezeichneten sie sich selbst als Konservative.
Doch was bedeutet konservativ? Darüber waren sich die Mitglieder dieser Elitenzirkel selbst nicht einig. Dass der Konservatismus als eine Ideologie mit festen Werten kaum greifbar ist, kann leicht erklärt werden. Denn im Laufe der Geschichte, im Zuge des politischen und gesellschaftlichen Wandels, verändert sich auch das, was aus konservativer Sicht bewahrt bzw. „konserviert“ werden soll. Wenn klar ist, dass eine Veränderung nicht mehr aufgehalten oder revidiert werden kann, werden viele Konservative sie akzeptieren, teilweise sogar aktiv befördern. Franz Josef Strauß – einer der zentralen Protagonisten in meinem Buch – brachte diese nur scheinbar widersprüchliche Verbindung von Konservatismus und Pragmatismus auf den Punkt, indem er sagte, „konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren“.
Konservatismus ist also hochgradig situativ. Konservative Wertvorstellungen und Überzeugungen unterliegen ebenso – und womöglich sogar noch stärker – dem Wandel der Zeit wie die Deutungs- und Wahrnehmungshorizonte anderer politischer Strömungen. Und sie können, je nach nationalem und zeitlichem Kontext, stark voneinander abweichen. Dementsprechend vielfältig und oft auch gegensätzlich waren die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe, die innerhalb der von mir untersuchten Organisationen vertreten und diskutiert wurden. Es war genau diese Vielfalt von „Konservatismen“, ihre verblüffende Flexibilität und ihre erstaunliche Anpassungsfähigkeit, die mich an diesem Thema so sehr fasziniert hat. Die Debatte über den „wahren“ Konservatismus und sein Verhältnis zur Moderne gibt es also nicht erst, seit Angela Merkel Kanzlerin ist oder seitdem die AfD ihre ersten Wahlerfolge gefeiert hat.
Nichts desto trotz gab es natürlich auch Gemeinsamkeiten, die eine internationale Annäherung von Konservativen aus unterschiedlichen westeuropäischen Ländern erleichterten. Die Furcht vor dem Kommunismus spielte sicherlich eine ganz wichtige Rolle. Sie wurde in der Nachkriegszeit zum zentralen Bestandteil eines transnationalen konservativen Selbstverständnisses. Die deutschsprachigen Mitglieder dieser Elitenzirkel sammelten sich unter dem religiös aufgeladenen, letztlich sehr diffusen Begriff des „Abendlandes“, der neuerdings unter ganz anderen Vorzeichen wieder als populistischer Kampfbegriff genutzt wird. „Abendländisches“ Denken galt aber aufgrund seiner antiliberalen Konnotationen seit Mitte der 1950er Jahre in zunehmendem Maße als reaktionär und politisch diskreditiert.
Das heißt jedoch nicht, dass die Protagonisten der „Abendland“-Bewegung einfach von der politischen Bühne abgetreten wären. Eines der spannendsten Ergebnisse meiner Arbeit war vielmehr, dass sich konservative Überzeugungen und konservative Selbstsicht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikal veränderten. Die gleichen Politiker und Intellektuellen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg für eine monarchistische Regierungsform und eine korporatistisch verfasste Wirtschaft stark gemacht hatten, waren spätestens in den 1980er Jahren durch die selektive Übernahme liberaler Ordnungsvorstellungen zu Fürsprechern der parlamentarischen Demokratie und zu Verteidigern der freien Marktwirtschaft geworden. Und die internationale Kontaktpflege und Sozialisation dieser Konservativen leistete einen entscheidenden Beitrag zu diesem Wandel.