Der ländliche Raum und die darin beheimateten Siedlungen gelten als der Inbegriff von Tradition. Dort sei die Moderne nur partiell und wenn überhaupt, dann nur funktional bzw. technologisch eingesickert, aber nicht umfassend. Insbesondere in der politischen Sphäre sind nach dieser Lesart traditionelle Formen und Praktiken beständig – sei es in der Verwaltung, auf dem Gebiet der Arbeit oder der Interaktion zwischen Akteur und Institution. Die Historikerin PD Dr. Anette Schlimm zeichnet in ihrer von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Habilitationsschrift ein differenzierteres Bild vom Regieren in Dörfern. Dabei erscheint Ländlichkeit nicht als das Andere der Moderne, sondern vielmehr als ihr integraler Bestandteil. Wir haben Anette Schlimm dazu unsere Fragen gestellt.
„Wo Moderne weder zeitgenössisch vermutet noch derzeit untersucht wird: Auf dem Land“
L.I.S.A.: Frau PD Dr. Schlimm, Sie haben zuletzt Ihre Habilitationsschrift vorgelegt, die unter dem Titel „Regieren in Dörfern. Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850-1945“ erschienen ist. Darin untersuchen Sie anhand von drei Landgemeinden in Deutschland, nach welchen Konzepten und mit welchen Praktiken dort regiert wurde. Bevor wir näher dazu kommen – was hat sie bewogen, sich dieses Themas anzunehmen? Welche Überlegungen gingen Ihrem Forschungsvorhaben voraus?
PD Dr. Schlimm: Die Themenfindung für ein solch großes Projekt ist immer komplex, da kommen viele Überlegungen, aber auch Zufälle zusammen. Ein Teil Strategie, ein Teil Bauchgefühl, ein großer Teil Neugier – und natürlich immer auch die Frage: Was wird im Fach eigentlich gerade diskutiert? Als ich anfing, über mein Habilitationsprojekt nachzudenken, wurde in der deutschsprachigen Zeitgeschichte darüber nachgedacht, was eigentlich unter „Moderne“ zu verstehen ist – ob Moderne eigentlich mehr ist als ein normativer Epochenbegriff. Vor allem Christof Dipper und Lutz Raphael haben vorgeschlagen, nicht nur die Reaktionen auf veränderte gesellschaftliche Strukturen als spezifisch für die Moderne zu fassen, sondern die Wechselwirkungen zwischen Strukturveränderungen (Basisprozessen) und der gesellschaftlichen Sinnstiftung (den Ordnungsmustern) sichtbar zu machen. Das hat mich interessiert, daher dachte ich: Wenn ich mit dem Begriff arbeiten will, dann sollte ich in einen Bereich schauen, wo Moderne weder zeitgenössisch vermutet wurde noch derzeit untersucht wird: Damit war ich auf dem Land.
Schon während meiner Dissertation kam ich immer wieder an den Punkt: Was ist eigentlich „der Staat“? Was ist das, was wir gerne in diesen Container packen, wie funktioniert(e) das? Und wer steckt eigentlich dahinter? Als ich die ersten Quellenerkundungen unternommen habe – was gibt es überhaupt für Überlieferung in ländlichen Räumen, in Dorfgemeinden –, da war relativ schnell klar: Das Material, was da ist, ermöglicht es mir, genau diesen Punkt anzuschauen: Wie wurde regiert? Von wem? Was für ein Know-how gehörte dazu? Welche Ressourcen brauchten die Menschen im Dorf, um sich selbst zu verwalten, aber auch um mit der Verwaltung und Politik zusammenzuarbeiten, ihre Interessen durchzusetzen, Ressourcen abzuzweigen? Das ist ein überaus spannendes Forschungsfeld, gerade für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich ganz neue Formen von Staatlichkeit herausbildeten, als die Gemeinden, über die ich geschrieben habe, langsam, aber sicher Teil des Staates wurden und doch von ihm unterscheidbar blieben. Diese Ausrichtung auf eine bestimmte Idee von Staatlichkeit (regelbasiert, territorial, hierarchisch etc.) habe ich an vielen kleinen Ereignissen sichtbar gemacht – erst die Gesamtsumme dieser vielen, vielleicht ganz unwichtigen Praktiken macht deutlich, wie grundlegend die Veränderungen in ländlichen Räumen zwischen 1850 und 1945 waren.