Und in der Tat wird im Neiddiskurs des italienischen Humanismus, den ich mir genauer angeschaut habe, unter Rückgriff auf antike Ideen ein enger Zusammenhang – man kann sogar sagen: eine antagonistische Bindung – hergestellt zwischen Neid und virtus, einem zentralen Werteideal der Zeit, das sich im Sinne von moralischer Tugend und (Schöpfer-)Kraft auffassen lässt. Dies ist z.B. der Fall bei Petrarca, der den Begriff der invidia aufs Engste mit dem der fama, dem Ruhm, und dem der virtus verknüpfte und ihn so entgegen der Rolle des Neids als Todsünde aufwertete. Damit ist die Grundlage für den Neiddiskurs der Folgezeit gelegt, in dessen Rahmen die Verbindung zwischen Neid und Tugend zentral wird. Leon Battista Alberti vertrat dann etwa die Auffassung, moralisch anstößige Themen wie der Neid ließen sich durch Kunst in Zeugnisse von Schöpferkraft verwandeln, das Laster sich auf diese Weise also fruchtbar machen. Auch diese Idee ist in meinen Augen zentral für das Verständnis der nachfolgenden künstlerischen Beschäftigung mit invidia, bei der auf unterschiedlichste Weise auf diesen Aspekt der schöpferischen Transformation des Lasters, sprich seiner Sublimierung durch Kunst als tugendhafte Praxis, abgehoben wird.
Insgesamt fiel die moralische Bewertung von invidia im frühneuzeitlichen Verständnis entschieden uneindeutiger aus, als es seine Stellung im Kanon der Todsünden zunächst vermuten lässt. So meinte etwa derselbe Alberti nicht nur, das Laster könne demjenigen, der nach Tugend strebt, nichts anhaben, sondern er behauptete sogar, dass im Gegenteil erst die Aversion des Neiders den Ruhm des Tugendhaften überhaupt verbreite. Invidia und virtus stellen demnach zwar grundverschiedene, einander aber gleichwohl bedingende Kräfte dar.
Diese Ansicht teilte auch Leonardo, der die Aspekte Dualismus und Komplementarität in einer Zeichnung im eindrücklichen Bild eines Zwitterwesens visualisierte: Dieses setzt sich aus einer männlichen Personifikation der Tugend, Virtus, und dem weiblichen Oberkörper der Invidia zusammen, wobei das gegen die Tugend stachelnde Laster aus der Hüfte seines jünglingshaften Gegenübers erwächst und somit als Ausgeburt der Tugend aufgefasst ist. In seinem Malereitraktat fordert Leonardo den angehenden Maler überdies dazu auf, sich zum Zeichnen in die Gesellschaft anderer zu begeben, und zwar wegen des "guten" Neids (invidia bona), der durch das gemeinsame Arbeiten angeregt werde. Er sporne dazu an, genauso gelobt werden zu wollen wie andere und Dinge zu übernehmen, die andere besser machten. Auch in ihrem positiven Aspekt bildet invidia hier ein Bindeglied zur virtus, denn Leonardos "guter" Neid führt zu Lob und dieses wiederum zum Zugewinn an Tugend.