Die Lockerungsmaßnahmen werden stetig ausgeweitet - Restaurantbesuche sind unter den gegebenen Umständen wieder möglich, Urlaube sollen im Sommer wieder ins Jahresrepertoire aufgenommen werden können. Die Rückkehr zur Normalität scheint demnach derzeit das Gebot der Stunde zu sein. Zurecht? Haben wir das Schlimmste hinter uns? Oder opfern wir gerade Erreichtes der Sehnsucht nach dem Status quo ante? Diese Fragen diskutierten Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen LogBuch mit ihren Gästen Prof. Dr. Valentin Groebner und der Germanistin Prof. Dr. Anne-Rose Meyer.
"Wir erkennen gerade ganz stark die Bedingtheiten unserer Kultur"
Chatzoudis: Guten Tag zusammen! Ich freue mich heute einen neuen LogBuch-Gast begrüßen zu können: Prof. Dr. Anne-Rose Meyer, Germanistin der Universität Wuppertal. Herzlich willkommen! Und ein herzliches Willkommen auch an unseren Gast Valentin Groebner, der schon beim letzten Mal dabei war. Heute möchten wir auf die bisherigen Erfahrungen mit den Lockerungen eingehen. Viele Geschäfte öffnen wieder, darunter auch Restaurants, die Bundesliga hat den Betrieb wieder aufgenommen, die Schulen auch, Urlaube im Sommer sollen wieder möglich sein – ist das die langsame Rückkehr zur Normalität? Ist die Krise so gut wie überwunden?
Groebner: Ich bin als Historiker per Definition nicht für die Zukunft zuständig. Aber wir haben gerade die Rückkehr der Vergangenheit erlebt: Grenzregimes wie in den 1920er und 1950er Jahren, der Superwachstumsbranche Tourismus wurde der Stecker gezogen (wie schon 1914), Passagierflugverkehr minus 96 Prozent. Geschichte geht offensichtlich nicht nur in eine Richtung.
Zimmerer: Geschichte geht nicht nur in eine Richtung. Ein schönes Bild. Die Rückkehr des Rads der Fortuna, der zyklischen Geschichtsvorstellung?
Meyer: Normaler gesellschaftlicher Umgang manifestiert sich auch in Riten der Gastlichkeit und des Essens. Von daher sind die derzeitigen Lockerungen ein Stück "altes Leben" und "gutes Leben". Gleichwohl stehen in vielen Restaurants und Kneipen die Tische weit auseinander. Einige beachten - wie hier in Köln zu beobachten - die Abstandsregeln aber auch nicht und die Gäste blasen sich den Bieratem gegenseitig ins Gesicht. Da sehe ich eher eine zweite Infektionswelle auf uns zukommen.
Chatzoudis: Halten Sie die Lockerungen dann für leichtsinnig oder geht es mehr darum, dass man glaubt, für eine zweite Welle gut gerüstet zu sein?
Meyer: Die Lockerungen halte ich für leichtsinnig. Aber es wird ja derzeit stark abgewogen zwischen Wirtschaft und Ansteckung. Die Entscheidung, wo sich wer hinsetzt, ob ich ins Restaurant gehe, bleibt ja zum Glück jedem einzelnen überlassen.
Chatzoudis: Sie sagen zum Glück. Leichtsinn also, den man sich erlauben dürfen muss?
Meyer: Letztlich ist jeder einzelne in der Verantwortung für sich und andere, ja. Wir sind ja von wirklich harten Restriktionen und Verboten extrem weit entfernt.
Zimmerer: Man gibt dem Druck und sachfremden Überlegungen nach, also solchen, die nicht durch die Virologie bestimmt sind. Deshalb kommen nun neben Virologen auch Köche in die Talkshows....?
Meyer: Wir erkennen gerade ganz stark die Bedingtheiten unserer Kultur. Für mich als kulturwissenschaftlich arbeitende Literaturwissenschaftlerin sehr spannend. Aber auch beunruhigend. Alles schien planbar und kontrollierbar in einer naturwissenschaftlich orientierten Welt. Nun sehen wir, was alles möglich ist.
Zimmerer: Der Einbruch des Kontingenten... Und berechenbar schien alles, aber nur bei uns im reichen Globalen Norden, wenn ich das sagen darf.