Um den Zustand der Europäischen Union (EU) war es schon vor der Coronakrise nicht besonders gut bestellt. Bereits zu Zeiten der Finanz- und Schuldenkrise seit 2008 und später im Zuge der Flüchtlingskrise zeigte sich, dass die EU weniger das ist, was sich die Befürworter einer fortschreitenden europäischen Intergration erhoffen, sondern vielleicht doch mehr ein loser Zusammenschluss von Einzelstaaten, die nach wie vor in erster Linie ihre nationalen Interessen verfolgen. In der gegenwärtigen Coronakrise streiten sich die EU-Mitgliedsstaaten wieder um Zuständigkeiten und vor allem ums Geld. Wie können die enormen finanziellen Lasten des wirtschaftlichen Lockdowns geschultert werden? Wer muss hier wem helfen? Und wie steht es um eine gemeinsame europäische Sozial- und Gesundheitspolitik, wenn wichtige Hilfsgüter und notwendiges Knowhow aus China, Russland und Kuba kommen (müssen)? Wird die Coronakrise der EU den letzten Atem rauben? Diese Fragen haben Prof. Dr. Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis Ihren neuen LogBuch-Gästen gestellt: der Archäologin Dr. Natascha Bagherpour Kashani sowie dem Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder.
"Die Cononakrise legt die Bruchstellen und Lebenslügen der EU brutal offen"
Chatzoudis: Heute kommen wir in unserem CoronaLogBuch in einer neuen Besetzung zusammen. Unseren bisherigen Gesprächspartnern Mahret Ifeoma Kupka und Paul Nolte gönnen wir eine Pause. Umso mehr freuen wir uns heute die Archäologin Dr. Natascha Bagherpour Kashani zu Gast zu haben sowie den Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder. Unser Thema lautet heute: Kostet Corona Europa den letzten Atem? Oder kommt es vielleicht ganz anders: Wächst Europa im Zuge der Coronakrise eher zusammen? Immerhin vermissen selbst regional stark verankerte Politiker wie Markus Söder in Bayern in der Coronakrise die EU bzw. Taten aus Brüssel. Nun sei die Stunde Europas gekommen, aber aus Brüssel vernehme man nichts, heißt es. Ist das so? Ist eine Krise wie Corona vielleicht sogar die Chance für Europa, zusammenzurücken, Europa neu zu entdecken und es endlich besser zu machen?
Rödder: Zunächst einmal ist die Krise ein Anlass zur Selbstbesinnung: Was ist die Europäische Union und was ist sie nicht? Was sie nicht ist: ein Bundesstaat. Und was nach wie vor wichtig ist: die Einzelstaaten.
Bagherpour: Ja, dem stimme ich zu.
Zimmerer: Nur Einzelstaaten? Bauchen wir die EU dann überhaupt noch?
Rödder: Das Bundesverfassungsgericht hat die EU als "Staatenverbund" charakterisiert - klingt deutsch kompliziert, scheint mir aber nach wie vor die goldene Mitte zu sein.
Zimmerer: Stimmen Sie denn zu, dass die EU in einer Krise ist?
Bagherpour: Ich stimme zu, dass es in dieser Krise eine Möglichkeit gibt, die Stärken aber auch die Desiderate der EU herauszufiltern.
Zimmerer: Auf die Stärken wäre ich jetzt neugierig...
Bagherpour: Ich denke, die EU bietet den Europäischen Staaten die Möglichkeit, sich gegen andere Kräfte zu behaupten und nicht unterzugehen.
Zimmerer: Meine Frage auch an die anderen: Was sind die Stärken der EU?
Rödder: Selbstbehauptung Europas - ganz meine Meinung, das ist die Losung der Stunde. Der "Europan way of life", wie Ursula von der Leyen gesagt hat.
Zimmerer: Würden Sie das bitte ausführen.
Rödder: Offene Gesellschaft und liberale Demokratie, die unter Druck von verschiedenen Seiten stehen.
Zimmerer: Auf Lesbos, in Ungarn?
Bagherpour: Politisch ist die EU noch sehr ausbaufähig, finde ich, aber die EU kann versuchen, die Staaten zu einigen, eine EU-Identität zu schaffen, das ist aber noch ein langer Weg.
Zimmerer: Sie zeigt doch gerade, dass sie das nicht kann, oder?
Bagherpour: Im Moment noch nicht, meine Hoffnung ist aber, dass alle Mitgliedsstaaten nach der Coronakrise einmal über den Zweck der EU nachdenken.
Zimmerer: Die Cononakrise ist ja nicht die Ursache, sondern sie legt die Bruchstellen und Lebenslügen der EU brutal offen.
Rödder: Das haben Krisen so an sich. Und "Lebenslügen" ist mir zu moralisierend. Die EU ist ein politisches Projekt, und da geht es nun mal um unterschiedliche Interessen, Perzeptionen und Kompromisse.
Zimmerer: Lebenslüge meint die Diskrepanz zwischen politischen Reden und politischem Tun.
Rödder: Auch das sehe ich nicht ganz so kritisch - scheint mir historisch ziemlich üblich.
Zimmerer: Schon klar, sie haben ja auch eine andere Vorstellung vom Sinn, Zweck und Ziel der EU als ich.