Die Debatte um "Deutsche Kultur" beziehungsweise um "eine deutsche Kultur" geht weiter. Mit der Geschichtsdidaktikerin Dr. Nina Reusch vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin meldet sich nach vier Männerstimmen nun eine Frau zu Wort, in denen sie sich konkret auf die vorangegangenen Beiträge von Prof. Dr. Jörn Rüsen, Prof. Dr. Dieter Borchmeyer und Prof. Dr. Andreas Körber bezieht. Wir verweisen hier noch zusätzlich auf den Beitrag von Prof. Dr. Peter Trawny.
Ein Kommentar von Dr. Nina Reusch
Mit Jörn Rüsen hat sich einer der prominentesten Vertreter der deutschen Geschichtsdidaktik zu Wort gemeldet, um die Staatsministerin und Integrationsbeauftragte des Bundes Aydan Özoğuz zu kritisieren, die in ihrem Beitrag vom 14. Mai diesen Jahres die kulturelle Diversität Deutschlands betont. Rüsen entwirft in seinem Beitrag stattdessen die Idee einer deutschen (Leit-)Kultur, die eine klar national definierte Größe sei. Eine genauere Analyse des zugrundeliegenden Kulturbegriffs hat dankenswerterweise bereits Andreas Körber in seiner sehr lesenswerten Replik vorgenommen. Ich möchte in meinem Beitrag jedoch noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen: nämlich die politischen Implikationen, die in diesem Beitrag, wie auch im Kommentar des Literaturwissenschaftlers Dieter Borchmeyer, mitschwingen.
Zunächst einmal verlieren weder Rüsen noch Borchmeyer auch nur ein Wort über die Ausfälle, die von Seiten der AfD bereits gegen Özoğuz geführt wurden. Alexander Gauland, gerade als Spitzenkandidat der AfD in den Bundestag gewählt worden, kommentierte ihre Thesen Ende August mit der Phantasie, die Bundesintegrationsbeauftragte in Anatolien zu „entsorgen“. In der AfD ist nicht allein solcher und ähnlicher Rassismus Teil der politischen Strategien und Zielsetzungen, sondern auch im Feld der Geschichtspolitik verfolgt die Partei eine revisionistische Linie. Diese zielt letztlich darauf ab, die als störend empfundene Erinnerung an den Nationalsozialismus abzuschaffen und stattdessen eine deutschnationale Erfolgsgeschichte zu propagieren. Dies betrifft nicht allein die von Björn Höcke geforderte „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, mit der er die „dämliche Bewältigungspolitik“ Deutschlands beenden will (https://www.tagesschau.de/inland/hoecke-rede-105.html), sondern auch etwa Gaulands Aussage, die Deutschen hätten „das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Doch nicht allein in den Reihen der AfD werden deutsche Geschichte und Kultur in rassistischer und nationalistischer Durchdringung interpretiert. Der Ruf nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ist auch jenseits des rechten Rands immer wieder zu hören, und auch in den konservativen Reihen wird ein deutschnationales Verständnis von Kultur propagiert, das rassistisch und ausschließend ist. Nicht von ungefähr hatte Özoğuz ihre umstrittenen Thesen als Replik auf die 10 Thesen zur deutschen Leitkultur formuliert, die zuvor von Thomas de Maizière aufgestellt worden waren. De Maizières Thesen innerhalb einer immer wieder von konservativer Seite gefütterten „Leitkulturdebatte“ transportieren das Verständnis einer kulturell homogenen deutschen Gesellschaft. Diese konstituiere sich unter anderem durch Leistungsdenken, bürgerliche Bildung, Patriotismus, Hochkultur und eine kollektive Erinnerungskultur. Und mit der These „Wir sind nicht Burka“ schließt de Maizière sehr deutlich den Islam aus der deutschen nationalen Kultur aus und setzt implizit das Christentum als Grundlage ebenjener Kultur. Genau dieser Ausschluss muslimischer Menschen oder solcher, die ob ihres Namens oder Aussehens muslimisch eingeordnet werden, steht letztlich auch hinter den Anfeindungen gegen Özoğuz.
Dass der Beitrag Rüsens über diese Zusammenhänge kein Wort verliert – weder über den Kontext der Thesen Özoğuz‘ als Replik auf die Thesen de Maizières noch über die rassistischen Ausfälle Gaulands gegen die Staatsministerin – macht ihn so problematisch. Denn auf diese Weise liefert die Geschichtsdidaktik letztlich Argumente für nationalistisches, rassistisches und geschichtsrevisionistisches Gedankengut. Besonders pikant wird dies, schaut man sich das Datum der Veröffentlichung an, die in der letzten Woche des Wahlkampfes liegt – drei Tage vor einer Wahl, bei der die AfD mit 12,6 % der Stimmen erstmals in den Bundestag einzieht.
Gerade angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen haben die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsdidaktik doch vielmehr den Auftrag, ihre theoretische und empirische Expertise einzusetzen für ein konstruktivistisches und transkulturelles Verständnis von Kultur und Geschichte – eines das Kultur nicht als abgeschlossene Nationalkultur sieht, sondern in ihrer Heterogenität und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit anerkennt. Des Weiteren sollte die Geschichtsdidaktik zu einem kritischen Umgang mit der deutschen Geschichte anregen – dann wären auch neue historische Vorbilder denkbar, anstatt immer wieder die Helden des Historismus zu feiern. Schauen wir uns an, wen Rüsen und Borchmeyer als historische Vorbilder vorschlagen: Luther, Humboldt, Schleiermacher, Goethe, Nietzsche, Kant und Herder werden hier genannt – mit der nachdrücklichen Empfehlung an Frau Özoğuz, sie möge sich doch mit diesen historischen Vorbildern einmal beschäftigen. Nicht nur ist es Ausdruck einer absoluten Ignoranz für Geschlechter- und Klassenverhältnisse, dass hier die Riege historischer Kulturträger eine rein männliche und bürgerliche ist. Sondern auch – und damit zutiefst verbunden – spricht aus der Zeugenschaft für die deutsche Nationalkultur, die hier angeführt wird, ein äußerst historistisches Geschichtsverständnis. Die Zeugen der deutschen Kultur, die hier genannt werden, wurden bereits im 19. Jahrhundert während der Hochphase des Historismus als historische Vorbilder der Deutschen aufgebaut und konnten sich offenbar bis heute gut halten. Dass die Idee einer deutschen Nation erst seit dem späten 18. Jahrhundert überhaupt existierte wird von Rüsen und Borchmeyer nicht erwähnt. Die Idee der Nation und damit auch der nationalen Kultur ist keine, die die gesamte deutsche Geschichte durchzieht, sondern eine moderne Erfindung, an der übrigens die Geschichtswissenschaft einen maßgeblichen Anteil geleistet hat. (Vgl. etwa Anderson 1983; Berger 2010). Und viele der Dichter und Denker, die hier als Zeugen der deutschen Nationalkultur angeführt werden, sind genau jene, die zu ihrer Zeit die Idee einer deutschen Nation erst propagierten und konstruierten.
Zudem bezieht sich dieser Heldenkanon fast ausschließlich auf Hoch- und Geisteskultur. Dass in der Geschichtswissenschaft spätestens mit der Neuen Kulturgeschichte seit den 1980er und 1990er Jahren ein Kulturbegriff Einzug gehalten hat, der Kultur als soziale Konstruktion begreift, auf die Heterogenität von Kulturen (auch innerhalb nationalstaatlicher Grenzen) und auf ihre gesellschaftliche Gemachtheit verweist (vgl. etwa Daniel 2006), wird in beiden Texten schlichtweg ignoriert.
Im Zuge der Frage nach einer gemeinschaftlichen deutschen Geschichtskultur beschäftigt sich Rüsen außerdem mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Dieser attestiert Rüsen, trotz allem inhaltlichen Streit der Historiker_innen und Politiker_innen unstrittige Grundzüge zu tragen: nämlich eine Integration des Holocaust in das historische Selbstbild der Deutschen. Was dabei freilich übersehen bleibt, ist dass diese „unstrittigen Grundzüge“ der Geschichtskultur erst Ergebnis von vielen immer wieder geführten Streitigkeiten über das historische Selbstverständnis der Deutschen war und also durchaus auf Grundlage einer heterogenen, kontroversen und sich beständig wandelnden Geschichtskultur beruht. Im Kontext der Erinnerung an den Holocaust verweist Rüsen darauf, „türkischstämmige Einwanderer“ würden „etwas Vergleichbares mit ihrem Völkermord an den Armeniern nicht schaffen“. Auch vor dem Hintergrund des bei weitem nicht adäquat aufgearbeiteten Genozid an den Herero und Nama ist diese Konkurrenz um die „bessere“ Erinnerungskultur problematisch – ganz zu schweigen davon, dass hier die deutsche Staatsbürgerin und Staatsministerin Özoğuz in die Bringschuld gebracht wird, sie möge erst einmal den Genozid an den Armenier_innen aufarbeiten, bevor sie es wagt, Thesen zur deutschen Kultur aufzustellen.
Nicht nur in diesem Fall ist es auch der Tonfall gegenüber Özoğuz, der die Beiträge Rüsens und Borchmeyers so ärgerlich macht: Die Politikerin wird da wie eine Schülerin durch ihren Geschichtslehrer darüber belehrt, mit welchen Themen sie sich besser einmal beschäftigen und was sie besser wissen solle; Borchmeyer geht so weit, sie als „töricht“ und „trivial“ zu diskreditieren und nennt sie eine Politikerin „die nicht weiß, wovon sie spricht“. Ist es nun allein ihr angeblich fehlendes Deutschtum, das Özoğuz nach Meinung dieser Herren für diese Debatte disqualifiziert, oder spielt hier womöglich auch noch mit herein, dass sie eine Frau ist?
Vor dem Hintergrund der geschilderten politischen Entwicklungen ist die Geschichtsdidaktik gut beraten, nicht die Leitkulturdebatten mit nationaldeutschen und bürgerlichen Kulturvorstellungen zu füttern, sondern die Chance zu nutzen, einen sozialkonstruktivistischen und transkulturellen Kulturbegriff und ein konstruktivistisches Verständnis von Nation in die öffentlichen Debatten zu bringen – beides ist in der Forschung längst Konsens und wird im Kommentar von Körber weiter ausgeführt. Sie sollte aufzeigen, dass die Nation und damit auch eine wie auch immer gedachte Nationalkultur kein zusammenhaltendes Kontinuum ist, dass die deutsche Geschichte durchzieht, sondern dass sie eine Erfindung jüngeren Datums ist, ebenso wie das ganze nationale und staatliche Konstrukt Deutschland. Tatsächlich hat Deutschland eine heterogene Bevölkerung mit vielfältig geprägten Menschen, und nicht die eine deutsche Kultur. Deutschland ist regional, konfessionell, sozial ausdifferenziert, und außerdem geprägt durch Migration, und das nicht erst seit den 1960er Jahren. Wenn wir anerkennen, dass Kultur keinesfalls eine rein national bestimmte und feststehende Entität ist, erübrigt sich auch letztlich die Debatte um Integration, die immer davon ausgeht, dass es Menschen außerhalb der Gemeinschaft gibt, die sich an die homogen gedachte Gemeinschaft anpassen müssten. Sondern wir könnten dann über Inklusion einer heterogenen Gesellschaft sprechen und darüber, wie wir diese Heterogenität gestalten und mit ihr umgehen wollen.
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PS: Die Geschichte wiederholt sich.
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Ist die Nennung des Geschlechtes irgend eine Qualität in einem intellektuellen Diskurs? Ganz gleich, ob es sich nun um etwas Gutes oder Schlechtes handelt.
Inhaltlich fällt das Niveau gegenüber den anderen Beiträgen ab. Es scheint wichtiger zu sein, die Diktion in einem politischen Wahlkampf zu kommentieren, sich wie beim Sensationsjournalismus um möglichst plakative Aufmacher bemühen. Ansonsten sehe ich wenig hilfreiches zur Klärung der Kulturfrage:
Nina Reusch: 'Wenn wir anerkennen, dass Kultur keinesfalls eine rein national bestimmte und feststehende Entität ist, erübrigt sich auch letztlich die Debatte um Integration, die immer davon ausgeht, dass es Menschen außerhalb der Gemeinschaft gibt, die sich an die homogen gedachte Gemeinschaft anpassen müssten.'
Es handelt sich um das wiederkehrende Strohmann-Muster, das dem Meinungsgegner unterstellt, er habe geschichtsvergessener Weise eine Vorstellung eines homogenen Volkes. Dies gab es geschichtlich wohl selten. Und schon gar nicht auf dem Boden der heutigen BRD. Kultur lässt sich in derartigen Begriffen aber gar nicht fassen, es handelt sich somit um einen Kategoriefehler mit fatalen Konsequenzen.
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"...dann muß man feststellen, daß sie von jener „partiellen Amnesie“ der Deutschen geprägt sind, die ein Landsmann von Frau Özoguz: der türkisch-deutsche Schriftsteller Zafer Şenocak in seinem wunderbaren Essay „Deutschsein“ von 2011 kritisiert hat."
Was will er uns mitteilen, wenn er Özuguz und Şenocak als "Landsleute" (aus welchem Land?) bezeichnet? Beide sind doch Deutsche, also Landsleute Borchmeyers. Möchte er Özuguz und Şenocak mit einer derartigen Kennzeichnung ausbürgern? Oder handelt es sich schlicht um eine sprachliche Schlampigkeit?
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Wie kommt die Autorin zu der Vermutung, durch Jörn Rüsen, der in seinem Beitrag ganz offensichtlich kulturtheoretisch und philosophisch argumentiert hat, spräche "die Geschichtsdidaktik" zu den Deutschen? Und was ist unter "letztlich" zu verstehen, wenn der 'erste' Beweis für rassistische und "revisionistische" (vulgo Nazi-) Positionen nicht geführt werden kann - und stattdessen sinistre politische Absichten mit Blick auf die Bundestagswahl konstruiert werden? Konstruktivismus ist kein Freibrief für Beliebigkeit.
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Zu dem Aspekt der Integration der Erinnerung an den Holocaust in das deutsche Selbstverständnis und somit in die deutsche (Geschichts)-Kultur ist interessant, dass das eben nicht nur für die deutsche Kultur reklamiert wird, sondern zumindest partiell (und nicht ohne Diskussion von möglichen narrativen Nebenfolgen der Normalisierung der deutschen Rolle im Holocaust) als "Europäisierung" und "Universalisierung" wenn nicht "des" Holocaust, so doch der Erinnerung an ihn und der politischen, menschenrechtlichen und anderer Lehren "aus" ihm diskutiert worden sind.
Ich habe es noch nicht gelesen, aber einer Besprechung von Robert Menasses "die Hauptstadt" entnehme ich folgende Charakterisierung:
"Der eifrige Referent Susman [...] begreift die EU nicht nur als Wirtschaftsraum, sondern als moralische Instanz. Und so liegt es auf der Hand, dass er [...] an die schlimmsten Auswüchse des Nationalismus erinnern will und an den Schwur, Auschwitz dürfe nie wieder stattfinden. [...]
Auschwitz – so lautet die provokante These des Romans – ist die moralische Hauptstadt der Europäischen Union; nur auf dem Fundament der Schande konnte das Friedensprojekt durchgesetzt werden." (OTTE, Carsten: "Mehr als Gurkenkrümmungsgrade". die taz 18.9.2017.
http://www.taz.de/!5445063/ ) -- eine europäisierte Variante von Auschwitz als "negativem" Gründungsmythos der Bundesrepublik als eines geläuterten Deutschland.
Das werden manche teilen, manche für hoch ambivalent halten, wieder andere verteufeln -- und das sowohl innerhalb Deutschlands als auch außerhalb -- von ganz verschiedenen Positionen und Perspektiven aus werden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede hierin ergeben.
Egal, ob man das teilt, oder nicht: Es mag hier aber zeigen, dass allein die Tatsache, dass diese Deutungen diskutiert werden können und werden, beweist, dass selbst die Geschichts- und Erinnerungskultur nicht exklusiv sein kann und nicht nach "innen" homogen.
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