L.I.S.A.: In den vergangenen drei Jahren wurden in unserem alltäglichen Sprachgebrauch Begrifflichkeiten an die Oberfläche gespült, die bis dato eher zum Wortschatz von bestimmten Experten und Expertinnen gehörte – beispielsweise: COVID-19, 3-G-Regel, 7-Tage-Mittelwert, AHA+L-Regel, B.1.1.529-Mutation, Delta-Variante, FFP2-Maske, Inzidenzwert, Lockdown, Long-Covid-Syndrom, Omikron-Vakzin, PCR-Test, Quarantäne, R-Wert, RNA-Impfstoff, SARS-CoV-2, Virenlast, Zero-Covid usw. Das klingt alles sehr technisch, sachlich oder gar wissenschaftlich. Sollte man sich als Wissenschaftler nicht darüber freuen, wenn solches Spezialvokabular in die Alltagssprache eindringt? Spricht das nicht für eine hohe Aufnahmefähigkeit der Öffentlichkeit für wissenschaftliche Diskurse?
Prof. Münch: Es kennzeichnet den modernen Staat, mit Hilfe von wissenschaftlicher Expertise zu regieren. Und mit der Entwicklung des modernen Staates ist immer umfassenderes wissenschaftliches Wissen geschaffen worden, das von Experten bei der Bewältigung staatlicher Aufgaben entweder direkt angewendet wird oder in Gestalt der wissenschaftlichen Beratung der Politik indirekt in politische Entscheidungsprozesse einfließt. Ersteres sehen wir z.B. bei der staatlichen Bereitstellung technischer Infrastrukturen, etwa im Straßen-, Schienen oder Brückenbau oder in Strom- und Kommunikationsnetzen. Auch bei anderen öffentlichen Dienstleistungen – z. B. der Gesundheitsvorsorge – wird wissenschaftliches Wissen direkt angewandt. Wissenschaftliches Wissen spielt aber auch bei der Vorbereitung vieler politischer Entscheidungen – etwa zur Gesundheitsvorsorge, zur Wirtschaftspolitik, zur Landwirtschaft, zur Rentenversicherung, zur Kriminalitätsbekämpfung, zur Migration, zu Bildung und Forschung, zum Umweltschutz und Klimaschutz – eine wichtige Rolle. Es trägt dazu bei, solche Entscheidungen mit möglichst genauem Wissen über ihre Effektivität und Effizienz hinsichtlich der politisch gesetzten Ziele und hinsichtlich ihrer Nebenfolgen treffen zu können. Regierungskommissionen beraten die Regierung in solchen Fragen, Anhörungen in Parlamentsausschüssen sorgen dafür, dass auch Expertise zu Wort kommt, die nicht direkt der Regierung zuarbeitet, sondern von der Opposition als Gegenexpertise in die politische Debatte im Parlament eingebracht wird. Das Gegeneinander von Expertise und Gegenexpertise ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass keine Irrwege beschritten werden und Fehler korrigiert werden können.
Expertenwissen geht besonders umfangreich in Entscheidungen supranationaler Institutionen ein, die daraus ihre Legitimität beziehen. Da diese Institutionen schwach bis gar nicht demokratisch legitimiert sind, wird der Legitimation ihrer Entscheidungen durch wissenschaftliche Expertise umso größere Bedeutung beigemessen. Auf dieser Ebene fehlt das Gegeneinander von Regierung und Opposition, deshalb bestehen auch nur beschränkt Möglichkeiten, Gegenexpertise auf Augenhöhe zur herrschenden Expertise ins Spiel zu bringen. Das entzieht supranationalen Entscheidungen durch wissenschaftliche Expertise wiederum Legitimität. Zu diesen supranationalen Institutionen gehört z.B. auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die eine wichtige Koordinationsrolle bei der Kontrolle von Gesundheitsrisiken, so auch bei der Bekämpfung von Pandemien innehat. Auch bei ihr besteht das Problem unzureichender Legitimation von Entscheidungen durch das Gegeneinander von Expertise und Gegenexpertise, zumal verstärkt als Problem gesehen wird, dass mit der Formulierung von WHO-Expertisen finanzielle Abhängigkeiten von der Pharma-Industrie und von Stiftungen, die mit dieser Industrie zusammenarbeiten, verbunden sind.
In den medialen Diskurs findet diese wissenschaftliche Beratung der Politik immer nur gelegentlich Eingang, wenn Thematiken in das Leben der Bürger spürbar eingreifen. Genau das ist im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie geschehen. So haben die Medien die Bürger z.B. täglich mit neuen „Inzidenzwerten“ zu Corona-Infektionen versorgt. Man kann dazu zunächst einmal sagen, dass die Bürger, die diese Berichterstattung verfolgt haben, über wesentliche Elemente des Infektionsgeschehens aufgeklärt wurden. Die Übernahme von Begriffen aus der Wissenschaft in den medialen Diskurs geschieht jedoch immer nach der Logik dieses Diskurses. Das ist die Logik der Aufmerksamkeitserzeugung in einem Meer von Informationen. Was die Bürger in Angst versetzt, also z.B. die Schreckensbilder der Toten von Bergamo bekommt zwangsläufig mehr Aufmerksamkeit als Geschehnisse ohne Angsterzeugungspotential. Die abstrakten Zahlen erhalten dadurch ein Gesicht und erzeugen Angst vor steigenden Todeszahlen. Die Zahlen werden emotional aufgeladen. Gegenläufige Evidenzen, die darauf hinweisen, dass positive PCR-Tests nicht zwangsläufig Infektion bedeuten, dass Infektion nahezu nur bei den Hochbetagten Lebensgefahr mit sich bringt und die Covid-Mortalität bei etwa 0,27 Prozent liegt oder dass die Auslastung der Intensivbetten nicht höher als bei stärkeren Grippewellen ist, haben es gegen die Erstwahrnehmung einer tödlichen Gefahr bei steigenden Inzidenzwerten schwer, weil die erste Definition der Situation das Feld beherrscht und Gegenevidenzen umso stärker sein müssen, um daran etwas ändern zu können.
Gegenevidenzen werden als Dissonanz zu den herrschenden Überzeugungen wahrgenommen, die am leichtesten dadurch reduziert werden kann, dass diese als nicht stichhaltig und nicht relevant abgewehrt werden. Dasselbe gilt auch für den Zusammenhang zwischen Lockdowns sowie Schulschließungen und der Dämpfung des Infektionsgeschehens, Impfung und Immunität. Auch da regiert zunächst die Angst, und Lockdowns, Schulschließungen sowie Impfungen erscheinen als Retter in der Not. Rein von der Aufmerksamkeitsökonomie betrachtet, ist da nicht mehr viel Platz für Gegenevidenzen. Sie verunsichern nur in einer Situation, in der die Gewinnung von Sicherheit alles andere dominiert. Wer Angst hat, greift nach jedem Strohhalm, auch wenn er noch so brüchig ist. Dazu kommt noch, dass der mediale Diskurs insbesondere in Situationen äußerer Bedrohung politisch überformt wird und dadurch wissenschaftliche Begrifflichkeiten emotional aufgeladen und politisch instrumentalisiert werden, von beiden Seiten, von denjenigen, die harte Maßnahmen zur Gefahrenabwehr verlangen, und von denjenigen, die daran Kritik üben.
Das heißt letztlich, Begrifflichkeiten aus der Wissenschaft bezeichnen bei der Übertragung in den medialen und politisch überformten medialen Diskurs nicht neutral Sachverhalte, sondern werden emotional aufgeladen. Sie verlieren dadurch ihre Aufklärungsfunktion und werden politisch instrumentalisiert. Sie werden zu politischen Kampfbegriffen, und zwar für beide politischen Seiten, für die Seite der Befürworter harter Maßnahmen und für die Seite der Gegner solcher Maßnahmen. Eine rein sachliche Auseinandersetzung ist unter solchen Bedingungen nicht möglich. Deshalb kann auch nicht davon gesprochen werden, dass wissenschaftliche Begrifflichkeiten im medial-politischen Diskurs direkt helfen, diesen Diskurs sachlicher zu gestalten. Um an Sachlichkeit zu gewinnen, müssen Räume geschaffen werden, in denen bewusst die politisch-mediale Logik zurückgedrängt wird und die Vertreter gegensätzlicher Positionen gezwungen werden, sich sachlich mit der jeweils anderen Seite auseinanderzusetzen. Das ist im medialen Pandemie-Diskurs nur in wenigen Formaten der medialen Berichterstattung gelungen. Das war schließlich auch der dominierenden Angstrhetorik geschuldet. Sie hat der Emotion freien Lauf gelassen, sodass es für eine rein sachliche Auseinandersetzung keinen ausreichenden Spielraum gab.