Bei der Fußballweltmeisterschaft der Frauen in Australien hat man sie nicht gesehen: die Stadionflitzer, die während eines Spiels plötzlich auf den Rasen rennen, kreuz und quer flitzen, bis sie irgendwann von Ordnern eingefangen und abgeführt werden. Dieses Spektakel bekommen nur die Zuschauer im Stadion zu sehen - die TV-Kameras haben da schon längst dem Geschehen demonstrativ den Rücken gekehrt. Was einst als kuriose und unterhaltsame Einlage galt, wird heute meist empört aufgenommen und sogleich moralisch geächtet. Ungeachtet dieses Wandels im öffentlich-medialen Umgang mit Sportflitzern war, ist und bleibt er, bleibt sie eines: ein Störenfried. Der Sportflitzer stört. Warum eigentlich? Diese und daran anschließende Fragen machen den Störenfried für die Sozialwissenschaften als eigentümliche Sozialfigur interessant, die es zu erforschen gilt. Das wiederum haben die beiden Sportsoziologen von der TU Darmstadt, Prof. Dr. Karl-Heinrich Bette und Prof. Dr. Felix Kühnle, in einem gemeinsamen Buchprojekt unternommen. Wir haben ihnen dazu unsere Fragen gestellt.
"Korporale Annäherung an einen berühmten Profisportler"
L.I.S.A.: Herr Professor Bette, Herr Professor Kühnle, Sie haben jüngst gemeinsam einen Band publiziert, der sich um ein Phänomen dreht, das den meisten Sportzuschauern bekannt ist: Flitzer im Sport – so auch der Titel des Buches. Haben Sie Beispiele von Flitzern, die Ihre Aufmerksamkeit besonders erregt haben? Was hat Sie zu diesem Thema geführt?
Prof. Bette / Prof. Kühnle: Im Jahre 1969 erreichte eine 22-jährige US-Amerikanerin, Morganna Roberts, notorische Berühmtheit, als sie in knapper Bekleidung und mit ausgeprägten sekundären Geschlechtsmerkmalen in ein Baseballspiel der Major League stürmte, um Pete Rose, einen Spieler der Cincinnati Reds mit einer Kuss-Attacke zu überraschen. Diese korporale Annäherung an einen berühmten Profisportler erhob sie später auch im Basketball, Football und Fußball zu ihrem Markenzeichen. Über drei Jahrzehnte kletterte sie als „Kissing Bandit“ über die Bande diverser Sportarten und schrieb sich so nachhaltig in die Geschichte des Flitzens ein. Der erste kolportierte Nacktflitzer im Sport war der Australier Michael O’Brien, der in Umsetzung einer Wettverpflichtung am 20. April 1970 vor 53.000 Zuschauern im englischen Twickenham-Stadion während eines Rugby-Wettbewerbs unter den Augen der königlichen Familie in der Pause völlig entblößt auf das Spielfeld rannte und durch seine Tat – dank medialer Verbreitung – eine weltweite Aufmerksamkeit erregte. Eine als „campus streaking“ bekannte studentische Spaß- und Selbstermächtigungspraxis hatte damit den sozialen Raum des Sports erreicht.
Als erste halbnackte Flitzerin ging Erika Roe in die Annalen des Sports ein. Ihr Oben-ohne-Überfall fand 1982 vor 67.000 Zuschauern ebenfalls auf dem Rasen des Twickenham-Stadions statt. Flitzer zeigen sich seitdem vornehmlich bei großen Sportevents in männlicher und weiblicher Gestalt im Fußball, Tennis, American Football, Eiskunstlauf, in der Leichtathletik, beim Wasserspringen, Boxen, Golfen, Curling, Cricket, Eishockey, Polo und noch in vielen anderen Sportdisziplinen. Sie tauchen einzeln oder in Gruppen auf, präsentieren sich nackt, teilbekleidet oder kostümiert, tragen Schuhe oder laufen barfuß, sind bemalt oder unbemalt, alt oder jung, maskiert oder unmaskiert, mit oder ohne Handy. In seltenen Ausnahmen schweben sie sogar mit motorisierten oder unmotorisierten Gleitschirmen in die Stadien und Arenen des Sports hinein und sorgen dort für eine Aufregung, die ihrer schwerelosen Ankunft entspricht.
Um eine Vorbildwirkung solcher „publicity stunts“ und mögliche Nachahmer zu verhindern, müssen die Übertragungsmedien seit einigen Jahren ihre Kameras wegschwenken, wenn ein Flitzer auf den Wettkampfflächen des Sports erscheint. Das Wegsehen und Abschalten der Fernsehkameras beim Auftritt dieser Störenfriede bei den großen Sportevents war für uns der primäre Anlass, einmal genauer auf diese Störenfriede hinzusehen. Dass wir mit unserer Monographie gleichzeitig eine Forschungslücke in den Sozialwissenschaften schließen konnten, war ein schöner Nebeneffekt.