Im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Südosteuropa nach Mittel- und Westeuropa ziehen, tauchte zuletzt in den Medien immer wieder der Begriff "Völkerwanderung" auf. Auch in einem unserer jüngsten Interviews kam dieser Begriff kritisch zur Sprache. Politiker sprechen vom Beginn einer neuen Völkerwanderung. Kann man die aktuellen Flüchtlingsbewegungen tatsächlich so bezeichnen? Was ist eine Völkerwanderung? Ab wann kann man davon überhaupt sprechen? Und wie steht es um die historische Analogie zur jener Epoche in der Spätantike bzw. im Frühen Mittelalter, die als "Zeit der Völkerwanderung" bezeichnet wird? Wir haben unsere Fragen dem Historiker Dr. Christian Scholl von der Universität Münster gestellt. Er arbeitet unter anderem zur Kulturgeschichte der frühmittelalterlichen Barbarenreiche sowie zu Transkultureller Geschichte.
"Plurale und äußerst heterogen zusammengesetzte Verbände"
L.I.S.A.: Herr Dr. Scholl, Sie forschen aktuell zur Völkerwanderungszeit zwischen 400 und 800 n. Chr. Dabei interessiert Sie eine transkulturelle Geschichte dieser Epoche. Was ist in diesem Zusammenhang unter „transkultureller Geschichte“ zu verstehen?
Dr. Scholl: Die transkulturelle Geschichte betont, dass es sich bei „Kulturen“ oder „Völkern“ keineswegs um homogene, in sich geschlossene und klar abgrenzbare Entitäten handelt, sondern vielmehr um Hybride bzw. Prozesse, die permanent Anleihen voneinander übernehmen und miteinander verflochten sind. Wenn ich also an einer „transkulturellen Geschichte“ der Völkerwanderungszeit arbeite, möchte ich deutlich machen, dass die „Völker“ dieser Zeit keine Abstammungsgemeinschaften mit gemeinsamen „Sitten“ und Bräuchen darstellten, sondern vielmehr plurale und äußerst heterogen zusammengesetzte Verbände, die in permanenter Wechselbeziehung zu ihrer Umgebung standen. Außerdem betont die transkulturelle Geschichte die Wechselseitigkeit von Austauschprozessen, und auch diese möchte ich in meiner Arbeit hervorheben. Denn bisher hat sich die Forschung meiner Ansicht nach zu einseitig mit der „Beeinflussung“ der sog. Barbaren, also der Nicht-Römer, durch die Römer auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang von einer „Romanisierung“ der Barbaren gesprochen. Dabei hat sie außer Acht gelassen, dass in manchen kulturellen und technischen Bereichen auch bedeutende Transfers von den Barbaren auf die Römer zu konstatieren sind.
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http://www.welt.de/geschichte/article146277646/Das-war-es-dann-mit-der-roemischen-Zivilisation.html