L.I.S.A.: Aktuell lässt sich eine Wissenschaftsskepsis bis hin zu einer Wissenschaftsfeindlichkeit beobachten. Vor allem mit Bezug zur andauernden Coronakrise werden Zweifel laut, die wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend in Frage stellen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Und: Halten Sie die Entwicklung für besorgniserregend?
Dr. Jaeger: Die letzte Frage zuerst: Ja, das halte ich für sehr besorgniserregend. Dies ist auch ein Grund dafür, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Im Übrigen lässt sich dieser Trend nicht erst seit der Coronakrise beoachten.
Oberflächlich betrachtet scheint alles in Ordnung zu sein. Schon in der Schule wird uns beigebracht, Dogmen kritisch zu hinterfragen und den Dingen rational auf den Grund zu gehen. Mathematik gehört zu den Schlüsselfähigkeiten jeder Schulausbildung, und auch die wissenschaftlichen Fächer genießen dort einen hohen Stellenwert. An Universitäten wird ebenfalls großer Wert auf eine wissenschaftsmethodische Ausbildung gelegt; Tendenz – seit 300 Jahren – weiter steigend. Doch warum muss uns dann eine 16-jährige Schülerin aus Schweden daran erinnern, uns bei der Diskussion um den Klimawandel „an den Erkenntnissen der Wissenschaften zu orientieren“? Und warum hat dieser Aufruf eine so starke Gegnerschaft? Wie kommt es, dass finanziell bestens ausgestattete Gruppen, die den Klimawandel leugnen, einen „Sieg über die Wissenschaft“ anstreben und mit aller Macht versuchen, den mühsam errungenen Weltklimavertrag auszuhebeln? Wie kann es sein, dass Impfgegner seit Jahrzehnten verbreiten, Kinder würden durch Impfstoffe geschädigt? Warum lehnen in den USA fast die Hälfte der Menschen die Evolutionstheorie ab? Auch in Deutschland liegt die Zustimmungsrate nur bei etwa 70 Prozent. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse kurzerhand weggewischt werden und rationale Argumente und empirische Fakten nicht mehr zählen, ist Populismus am Werk. Denn Populismus ist mehr als nur ein bestimmter Politikstil, der sich Stimmungen in der Bevölkerung zunutze macht. Er ist auch die Frucht von Weltanschauungen und Dogmen, die nicht hinterfragt werden dürfen – mit anderen Worten: Populismus und Ideologien gehen Hand in Hand.
Dabei steht die wissenschaftliche Methode selbst gar nicht breit in der Kritik. Niemand würde von sich behaupten wollen, er würde nicht rational und faktenbasiert denken und handeln. Auch die allgemeine Kritik an der Technologie ist trotz Kernkraftgegnerschaft und der Beschwörung der Gefahren einer übermächtigen Künstlichen Itnelligenz oder von zukünftigen Gen-Designerbabys beschränkt. Wir leben in einem technikaffinen Zeitalter. Auch für Klimaskeptiker, Impfgegner und erklärte Anhänger populistischer Parteien sind wissenschaftliche Erkenntnisse ein unverzichtbarer Teil des Lebens: Sie schützen ihre Häuser mit Blitzableitern vor Gewittern, nicht durch Opfergaben an Götter. Sie benutzen GPS, schlucken Antibiotika und benutzen Computer und Internet. Mehr denn je werden technologische Errungenschaften bereitwillig angenommen. US-Präsident Trump, der Wissenschaftler gerne „Idioten“ nennt, wenn sie ihm widersprechen, beschwört nichtsdestotrotz die baldigen Impfstoffe amerikanischer Wissenschaftler gegen das Covid-19-Virus. Es sind vielmehr die Wissenschaftler, denen misstraut wird. Die Vorwürfe lauten etwa: „Die haben doch nur ihre eigenen Interessen oder ihr eigenes Ego im Sinn, lassen sich kaufen und verkaufen das Volk für dumm“, „Die wissen doch selber nicht Bescheid und widersprechen sich ständig“. „Es versteht doch kein Mensch, was die sagen.“
Der Erfolg der Populisten beruht auf einer verzerrenden Simplifizierung gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Zusammenhänge. Wissenschaft ist das genaue Gegenteil. Sie ist offen und lebt vom Zweifel und der Skepsis derjenigen, die bestehende Theorien hinterfragen. Sie ist so erfolgreich, nicht, obwohl sie sich irren kann, sondern gerade weil sie dies tun kann, und sich dann korrigieren kann. Aber sie ist auch messerscharf in ihrer Ablehnung von Unsinn und rechthaberischem Wahn. Ihre Methodik erlaubt es nicht, ohne Faktenbasis allem zu widersprechen, was zu komplex erscheint oder nicht ins Weltbild passt. Vielmehr bedarf es großer intellektueller Disziplin, sich auf ihre kritische Methode einzulassen und sich dem so fruchtbaren wie scharfen Diskurs auf dem Weg zur Wahrheit zu stellen. Dazu gehört eben auch eine kritische Distanz zum eigenen Wissen. Genau dieses wissenschaftlich-rationale Denken ist das, was Populisten entweder intellektuell nicht schaffen oder was sie vermeiden, weil es nicht ihren Zielen dient. In beiden Fällen ist ihre Antwort aggressive Propaganda, die sich gegen diejenigen richtet, die den Tatsachen zu ihrem Recht verhelfen wollen.
Solche Ablehnung von Wissenschaftler erkennen wir imme rund immer wieder in ganz bestimmten Gruppen:
- Rechtextremisten, die den Augenblick nutzen, um ihre Hetze gegen die Regierung, gegen Ausländer und Andersdenkende, gegen Wissenschaft und so ziemlich alles, was nicht in ihr limitierts Weltbild passt, an den Mann zu bringen (es handelt sich hier in den meisten Fällen um Männer) und dabei immer wieder die alte Mär von einer Meinungsdiktatur der Regierung und den Wissenschaftlern von sich geben,
- Verschwörungstheoretiker, die glauben, dass dunkle Mächte (Bill Gates, chinesische 5G-Technologen, eine heimliche Weltregierung a la Bilderberger oder Freimaurer) ihren eigenen Interessen nachgegen, zulasten der breiten Mehrheit, dem «Volk», und die daraus ihr eigenes Recht auf Widerstand ableiten,
- Esoteriker, die mit ihrem Überwissen auf jenseitige Kräfte hinweisen, auf die wir uns, anstatt staatlichen Anweisungen zu folgen, doch stützen sollen,
- Impfskeptiker, die davor warnen, dass die Regierungen ihre Bürger schon bald dazu zwingen werden, sich einen Chip einzusetzen, damit sie uns alle kontrollieren können,
- Antisemiten, die den Grund allen Übels, und damit auch für die Corona-Krise, in den Machenschaften einer weltweiten jüdischen Verschwörung gegen Nicht-Juden sehen,
- C-Promis, de jede Chance zur Aufmerksamkeit zu nutzen versuchen und sei der Weg noch so dämlich,
- Reaktionäre Kirchenvertreter, die Hassparolen von sich geben und auf ihr Recht der Massenpredigt pochen, was beides schon im Mittelalter die Pest hat erst so schlimm werden lassen.
Konkret zu Corona: Es ist eben auch so, dass die Wissenschaftler noch bei weitem nicht alles über das Covid-19 Virus wissen. Es entspricht nicht der Methode der Wissenschaften, am Anfang schon alles über einen neuen Gegenstand oder eine neue Erscheinung zu wissen zu beansprchen. Vielmehr folgen sie einer Methode, die den Status quo ihres Wissens ständig hinterfragt, so dass wir in einer nicht endenden kritischen Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Erkennens und Meinens mit der Zeit immer besser Bescheid wissen. Weniger geduldigen, von ihrem eigenen Wissen stets zu 100% überzeugten oder allgemein von starken Botschaften getriebenen Zeitgenossen ist dieser mühsame Weg, den Dingen auf die Spur zu kommen, nicht leicht zu vermitteln. Was in der Wissenschaft Normalität ist, nämlich, dass jede Erkenntnis innerhalb der Community immer auch angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, sorgt bei diesen Menschen für Verunsicherung - und erlaubt es Wissenschaftsskeptikern, wissenschaftliche Erkenntnisse per se anzugreifen, gerade weil diese nie den Anspruch ewiger Wahrheit mit sich führen.
Dr. Lars Jaeger hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.