Die Unabhängigkeit der Geschichte von unten muss in unserer Vision Priorität haben. Das gilt für die Auswahl der Themen, der Methoden und der Quellen. Laien sollen bestimmen, welche Geschichten für sie relevant sind und welche Deutungen sie daraus ziehen. Förderung und Anerkennung durch Politik und Wissenschaft dürfen nicht daran gekoppelt sein, ob sie diese Deutungen dann teilen. Unabhängigkeit bedeutet hier aber nicht, dass Staat und Wissenschaft nicht mit den Initiativen ins kritische Gespräch kommen sollten. Im Gegenteil. Diese sollten aber auf Augenhöhe geführt werden. Die Initiativen werden so zu einer gleichwertigen “dritten” Stimme einer demokratischen Geschichtskultur. Konflikt und Reibung zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft sind zentrale Elemente der Demokratie. Der Zivilgesellschaft kommt dabei nicht nur die Aufgabe zu, Forderungen zu stellen. Für eine emanzipatorische Geschichtskultur müssen Bürger:innen selbst aktiv werden, anstatt sich mit dem Platz der Rezipient:innen oder maximal einer repräsentativen Position als Beirät:in zufrieden zu geben. Die Überführung von Initiativen und ihren Archiven in staatliche Institutionen oder Universitäten kann keine Lösung sein. Es muss Strukturen geben, in denen einerseits die Existenz der Initiativen gesichert ist und andererseits die staatliche und universitäre Einflussnahme auf ein geregeltes Minimum reduziert bleibt.
Wer im vorherigen Absatz Bauchschmerzen bekommen hat, wird wohl die folgenden Problemwahrnehmungen teilen: Zu oft wird Geschichte in der Öffentlichkeit für Zwecke gebraucht, die der Demokratie schaden. Zu oft werden Vergleiche gezogen, die auf einer Dramatisierung oder Banalisierung von Ereignissen der Vergangenheit beruhen. Zu oft verstellt die gewünschte Deutung der Geschichte den Blick auf Ambivalenz und Kontingenz. Öffentlich gepflegte Vorstellungen widersprechen nicht selten den Erkenntnissen der Forschung oder dem Veto-Recht der Quellen. Als Zeithistoriker:innen verwenden wir einen erheblichen Teil unserer Ausbildung und Arbeit auf die Reflexion unseres Standorts – wir graben, wo wir stehen, aber bemühen uns, das Vergangene immer in seiner Differenz zur Gegenwart zu sehen. Diese Fähigkeit müssen wir in die Praxis der Geschichte von unten einbringen. Vielerorts gehen akademische Historiker:innen bereits auf Geschichtsvereine und -initiativen zu oder sind dort selbst aktiv. In Projekten bieten sie Strukturen und Hilfestellungen für queere, postkoloniale oder migrantische Initiativen. Diese Ansätze gilt es zu stärken, ohne dass Zeithistoriker:innen sich mit einer primär politischen Agenda von Initiativen gemein machen oder als Autoritäten auftreten, die das Verfahren vorgeben und die nicht mehr der Kraft des besseren Arguments bedürfen.
Das Vereinswesen in Deutschland muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, etwas eingestaubt daher zu kommen. Gerade in ländlichen Regionen lösen sich Vereine auf, weil ihre Mitglieder interessen-, zeit- oder altersbedingt austreten. Es fehlt Nachwuchs, der nicht nur die vorhandenen Aufgaben fortführt, sondern eigene Perspektiven und Ziele einbringt. Dass es für Aktivismus im lokalen Raum Potential gibt, zeigen etwa Klimaaktivist:innen oder junge Gewerkschafter:innen. Auch in Geschichtsvereinen übernehmen junge Menschen Verantwortung in den Vorständen. Historiker:innen an Universitäten sollten in Lehre und Forschung die Arbeit der Vereine stärker berücksichtigen und dabei Studierende einbinden. Geschichtsvereine sind vielleicht nicht der nächste Arbeitgeber, können aber ein Ort sein, an dem Studierende ihre Themen, Sichtweisen und Fähigkeiten einbringen. Im Rahmen von Praktika oder Nebenjobs, die gegebenenfalls vom Staat oder den Universitäten zu finanzieren wären, können sie erste Texte in Vereinszeitschriften veröffentlichen, Vorträge halten oder die Archive weiter erschließen. Dass ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist, gerät dabei zum besonderen Vorteil: Junge Historiker:innen können vom Erdgeschoss des Elfenbeinturms aus eine Brücke zu jungen Laien bauen. Von den Vereinen verlangt das, diesen frischen Wind aufzunehmen und ihn nicht mit dem Argument der Tradition – “das haben wir schon immer bzw. noch nie so gemacht” – abzublocken.
Damit die Geschichte von unten eine gemeinsame Basis findet, schlagen wir die neue Auseinandersetzung mit Nachbarschaftsgeschichte vor. “Grabe wo du stehst” ist auch eine räumliche Vorgabe. Die historischen Spuren von Themen, die die Bürger:innen interessieren, werden vor der eigenen Haustür gesucht: Straßennamen, Friedhöfe, Dorfplätze, Bahnhöfe. Das Alltägliche und Vertraute kann so nach Migration, postkolonialen Verstrickungen, queeren Lebenswelten oder ökologischen Entwicklungen befragt werden. Die bestehenden Geschichtsvereine und Werkstätten verfügen über die nötige Expertise bezüglich regionaler Archive oder sogar selbst über wichtige Quellenbestände. Sie können auch (wieder) ein Ort des Sammelns und Produzierens von Quellen sein. Neben der historischen Spurensuche gehört es für die Geschichtswerkstätten dazu, ihr Wissen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Sie haben Stadtkulturen bereits in der Vergangenheit geprägt. Hier gilt es, an Erfahrungen und Lehren anzuschließen.
Gerade im Kontext der Nachbarschaft bieten sich räumliche Interventionen an. Das Stolpersteinprojekt, das Günter Demnig und ungezählte Ehrenamtliche seit Jahrzehnten durchführen, ist dafür ein gutes Beispiel. Wir verbinden hiermit auch ein politisches Anliegen. Zusammen in Nachbarschaften, Stadtteilen oder Gemeinden zusammenzuleben und aufeinander im Nahraum bezogen zu sein, kann intersektionale Kategorien wie Herkunft, Geschlecht oder Nationalität transzendieren. Fühlt man sich einem Raum zugehörig, wird die Geschichte des Lokalen – in pluralen, polyvalenten Bezügen – über solche Zuschreibungen hinweg aneigbar. Auch akademische Historiker:innen sind so verortet. Vor unseren Haustüren werden die Spuren von sehr nahen oder fernen Vergangenheiten sichtbar und ihre Folgen bis in die Gegenwart greifbar – egal ob frühneuzeitlich, kolonial oder nationalsozialistisch. Was hindert uns daran, an der Historisierung unserer geteilten Lebenswelten vor Ort teilzunehmen?
Wenn wir eine neue Geschichte von unten als Utopie verstehen, so ignorieren wir, dass unsere Vorschläge zeitlich und finanziell unrealistisch sind. In einer Utopie würde die Geschichte von unten nicht als Bittstellerin für Finanzierungspläne an den Staat herantreten. Historiker:innen und Laien müssten in einer Utopie für das Engagement nicht ihre Freizeit opfern, sondern die Arbeit an der Geschichte wäre Teil einer demokratischen Lebenswelt. Eine robuste, zivile Gegenwelt braucht mitgliederfinanzierte Organisationen, eine engagierte und kritische Distanz zur nationalen Geschichtspolitik und die Bereitschaft, die Mühen der Ebene auf sich zu nehmen. Damit sich demokratische Wissenschaft nicht in hohlen Phrasen und als wohlmeinendes Elitenprojekt erschöpft.