Sibylle Röth, wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post Doc) für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Konstanz. Bisherige akademische Karriere: Lief glatt: Stipendien und das gute Dutzend Arbeitsverträge griffen nahtlos ineinander bzw. ergänzten sich sogar; gefühlter Status folglich: vergleichsweise überprivilegiert. Monographie: physisch: bestens geeignet um Blütenblätter zu pressen; inhaltlich: bislang noch keine Rückmeldung von der wissenschaftlichen Community. Größtes Defizit: Statt zielgerichtet und strategisch vorzugehen, denke ich immer wieder, ich dürfte mich auch noch für anderes interessieren und engagieren als meine „akademische Karriere“.
Utopien der Geschichtswissenschaft. Oder: (was) darf ich hoffen?
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Sibylle Röth
Eine Vision oder doch lieber zum Arzt?
Auf die Frage nach einer Vision für die Geschichtswissenschaft ist mir zunächst ehrlich gesagt nicht mal eine halbe eingefallen. Während man nun zunächst denken mag, dies sei ein gutes Zeichen einer robusten seelisch-mentalen Gesundheit, scheint es mir selbst eher beunruhigend: Was, wenn einem schon überhaupt nichts mehr dazu einfällt, wie es besser sein könnte, weil man schon bei der Diskussion um kleine, selbstverständlich erscheinende Veränderungen permanent auf eine dicke Mauer aus Unverständnis und vorgeblicher Sachzwänge stößt?
Was wenn man auch inhaltlich das Gefühl hat, dass das Fach nicht mehr genau weiß, worum es ihm eigentlich gehen kann und soll. Ich habe den Eindruck – und dieser mag hochgradig standortgebunden sein und von meiner epochalen und thematischen Ausrichtung abhängen – dass uns zu einigen fundamentalen Grundfragen des historischen Arbeitens der Konsens abhanden gekommen ist, weil Begriffe wie „Entwicklung“, „Kausalität“ und „Fakten“ – ganz zu schweigen von „Säkularisierung“, „Aufklärung“ oder „Moderne“ – Unbehagen auslösen. Dieses Unbehagen ist natürlich nicht unbegründet, kann aber nicht unbearbeitet im Raum stehen bleiben. Denn Geschichtswissenschaft kann sich nicht auf die Aufdeckung überholter Narrative beschränken, sondern muss hin und wieder auch ein neues Narrativ anbieten – und sei es nur, damit auch die kommenden Generationen etwas zu dekonstruieren haben. Wo aber ist gegenwärtig der produktive Streit? Wo sind die umfassenderen Thesen und die damit einhergehenden kontroversen Debatten? Wo ist ein methodischer Ansatz, der nicht nur eine neue Nische eröffnet, sondern eine grundsätzliche Neubetrachtung des Bisherigen erforderlich macht?
Wie gesagt: Ich behaupte nicht, dass die derzeitige Geschichtswissenschaft von überall aus betrachtet, so aussieht. Aber da ich nur meinen eigenen Standpunkt habe, werde ich aus ihm heraus schreiben. Statt mit einer rosigen Utopie einer schönen Zukunft starte ich bei einer Reduktion auf das mir als wesentlich Erscheinende, um zu schauen, wie weit man von dort aus kommt: Was also sollte (Geschichts-)Wissenschaft im Grunde sein und welche Rahmenbedingungen braucht sie?
Das Ideal des Elfenbeinturms und die traurige Realität
Folgt man Niklas Luhmann, bedarf es dafür gar nicht viel: Wie die Anekdote sagt, lautete die Beschreibung seines Forschungsprojekts »Thema: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine«. Besser lässt sich das Ideal des selbstgenügsamen und intrinsisch motivierten Forschers in seinem Elfenbeinturm kaum auf den Punkt bringen. Und das Ergebnis der 30-jährigen Forschung konnte sich ja durchaus sehen lassen. Auch wenn man zu Luhmanns Systemtheorie stehen mag, wie man will, die Bedeutsamkeit wird man ihr kaum absprechen können. Ein Element, dass in diesem Kontext etwas genauer betrachtet werden soll, ist die These, dass sich funktionale Differenzierung – man mag diese nun für das Grundelement der „Moderne“ halten oder nicht – über systemische Abschließung vollzieht: Die Teilsysteme einer Gesellschaft arbeiten autonom; was zählt ist die je eigene Logik. Im Fall der Wissenschaft ist die Währung „Wahrheit“ – heute würde man wahrscheinlich einen etwas weniger pathetischen Begriff bevorzugen. Was für das wissenschaftliche Arbeiten jedenfalls nicht zählen sollte, sind Geld, Macht und Beziehungen.
Um im Bild des Elfenbeinturms zu bleiben, wie setzt sich dieses Ideal für seine Bewohner:innen um? Zum einen haben sie die notwendigen Mittel für ihre Forschung. Luhmanns Kostenschätzung greift sicherlich etwas zu kurz: Ein paar Kosten verursacht eine Lebenszeitverbeamtung schon und letztlich ist es die Gesellschaft, die das finanzieren muss. Aber wer als Forschende:r angenommen wird, muss auch entsprechend ausgestattet werden, um forschen zu können. Da die meisten Sozial- und Geisteswissenschaftler:innen dazu keine Superlaser brauchen, halten sich die Kosten ja auch in Grenzen: Die kleine Kammer im Elfenbeinturm, der Zugang zur Bibliothek, der Zugriff auf die nötige Technik, die Möglichkeit zu Archiv- und Konferenzreisen sollte sich für alle sicherstellen lassen, ohne ein komplexes Antragswesen zu erfordern.
Sie arbeiten frei und selbstbestimmt: Der Elfenbeinturm wird autonom verwaltet und wer ein Zimmer in ihm ergattert hat, darf sich frei von Außeneinflüssen in ihm entfalten. Weder die anderen Bewohner:innen noch die Politik noch sonst jemand schreibt vor, was und wie geforscht werden soll. Die Politik – denn das ist ja der klassische Bedrohungsfaktor in diesem Bild – darf den Elfenbeinturmbewohner:innen nicht reinreden, ihre Ergebnisse nicht vorherbestimmen oder zensieren. Sie sind auch nicht dafür da, Auftragsarbeit für die Gesellschaft zu erfüllen. Zwar sollen öffentlich finanzierte Ergebnisse öffentlich zugänglich sein (!), sie müssen sich aber nicht in ihrem direkten Gebrauchswert rechtfertigten lassen. Als abgeschlossenes System kommuniziert die Wissenschaft zwar mit ihrer Umwelt, dabei findet aber immer eine Übersetzungsleistung in die je eigene Systemlogik statt. Nur die Forschenden selbst bestimmen, welche Fragestellungen sie unter welchem Blickpunkt bearbeiten wollen, weil nur sie die Expert:innen in dieser Sache sind. Im Gegenzug verkünden sie ihre historischen Erkenntnisse eben auch nicht als Handlungsanleitung für die Gegenwart, sondern lediglich als Reflexionsfolie und Denkanstoß. Um diese Unabhängigkeit zu gewährleisten, bietet das Leben im Elfenbeinturm wirtschaftliche und soziale Sicherheit.
Da unter diesen Bedingungen keine externe Kontrolle stattfinden kann, muss die Qualitätskontrolle intern erfolgen: Ob die Forschung ertragreich war, bestimmt allein der wissenschaftliche Diskurs. Forschungsergebnisse werden präsentiert und diskutiert. Das Ziel ist nicht primär die eigene Karriere oder das eigene Prestige, sondern – wir sind hier noch im Ideal, da ist Pathos erlaubt – die kooperative Arbeit am Fortschritt der Erkenntnis. Das muss keineswegs durchgehend konsensuell ablaufen: Dissens und akademischer Streit gehören dazu, denn das Ziel ist ja nicht die Bestätigung dessen, was alle ohnehin zu wissen glauben, sondern Neues herauszufinden. Aber der Streit muss sich eben im Rahmen der wissenschaftsinternen Logik vollziehen: Es zählt nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments, die solidere Quellenbasis, der plausiblere Erkläransatz. Weder systemfremde Nebenfaktoren noch ungleiche Forschungsbedingungen dürfen dabei eine Rolle spielen, denn im Ideal sind alle Bewohner:innen des Elfenbeinturms prinzipiell gleich.
In der Realität sieht es mit dem Luxus des Lebens im Elfenbeinturm freilich ganz anders aus. Die optimalen Forschungsbedingungen gelten maximal für das Fünftel des wissenschaftlichen Personals, dass eine Vollprofessur innehat – und auch für diese nur mit Abstrichen. Denn da die solide Grundfinanzierung fehlt, ist die Arbeit oft von Antragschreiben und Mitteleinwerbung geprägt – Zeit die eigentlich für die intensive Vertiefung in die eigene Thematik zur Verfügung stehen sollte. Statt der Logik der Wissenschaft zählt dabei die Eigenlogik der Antragsstellung und der damit einhergehende Modus der Antragslyrik. Kooperationen werden nicht mehr (nur) gesucht, weil man ein gemeinsames Interesse verfolgt, sondern weil es ein interdisziplinäres Großprojekt sein soll. Luhmanns „Kosten: Keine“ ist heute nichts, womit man glänzen kann – je teurer ein Forschungsprojekt, desto mehr Prestige verspricht es.
Diese Probleme potenzieren sich für den sogenannten Wissenschaftlichen Nachwuchs. Denn die Qualifizierungsphase ist durch Zeitdruck, Abhängigkeit und materielle Unsicherheit geprägt. Es geht nicht nur um das freie Interesse und die Liebe zum Wissen, sondern um Anträge, Zeitpläne, Publikationszahlen und – auch hier – Drittmittel. So ist das Thema allzu oft nicht frei gewählt, sondern das, wofür es eine Projektstelle gab oder das, was durch seine Orientierung an Forschungstrends oder aktuellen Bezügen die meisten Chancen auf Förderung hat. Die Universität ist oft nicht die, die die passenden Ansprech- und Kooperationspartner:innen und damit das optimale Forschungsumfeld für das spezifische Projekt bietet, sondern schlicht die, die es eben geworden ist. Die durchschnittlichen Arbeitsvertragslaufzeiten entsprechen nicht mal im Ansatz der durchschnittlichen Qualifikationszeiten, so dass der Arbeitsprozess immer wieder unterbrochen werden muss, um die Anschlussfinanzierung zu sichern. Und diese Phase der Unsicherheit zieht sich meist bis in die Mitte des Lebens hin. Denn nach der Promotion ist vor der Habilitation und nach der Habilitation ist (in der Regel) vor der Berufung. Der Lohn der Angst ist also nicht etwa die garantierte Übernahme auf die erstrebte Professur, sondern immer weitere Phasen der Unsicherheit. Man kann in diesem System alles richtig machen und dennoch nie in einer Festanstellung ankommen.
Auf diese Weise fördert man nicht das Streben nach Erkenntnis, sondern eher die Angst vor dem Versagen. Fernab des Ideals des Elfenbeinturms führen diese Arbeitsbedingungen für den überwiegenden Teil der Forschenden zu materieller Unsicherheit für die Zukunft – wenn nicht schon in der Gegenwart. Sie fordern ständige Leistung und Flexibilität und behindern damit massiv die Familien- und Lebensplanung. Die Arbeit, die im Ideal unter den Bedingungen von Freiheit stattfinden sollte, vollzieht sich unter Abhängigkeit und vermittelt das permanente Gefühl des Ungenügens. Es gibt kein Durchatmen und sich Neusortieren, sondern nur ein Höher-Schneller-Weiter. Geringe Frauenquote? Wenig Diversität? Kaum Freiwillige für die universitären Gremien? Eine erschreckende Anzahl an Angststörungen und Depressionen? Wundert es denn wirklich jemanden?
Was tun? – Von Sachzwängen und unsachlichen Zwängen
Ja, der Elfenbeinturm braucht eine Einlasskontrolle. Die mit dem wissenschaftlichen Arbeiten verbundenen Freiheiten sind groß, so dass die Gesellschaft, die das bezahlt, gute Gründe braucht, um darauf vertrauen zu können, dass die Mittel auch sachgerecht eingesetzt werden. Sie darf auch durchaus bestimmen, wie viele Elfenbeinturmbewohner:innen sie sich leisten will. In den etwas weniger seriösen Ecken der Debatte um die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wird gelegentlich unterstellt, die Forderung wäre, einfach jeden Menschen, der jemals an einer Universität gearbeitet hat, direkt dauerhaft anzustellen und am besten gleich auf eine Professur zu befördern. Nein, darum geht es nicht.
Natürlich werden die Arbeitgeber weiterhin auswählen, wen sie anstellen. Aber wenn sie sich für jemanden entscheiden, sollen sie auch die Arbeitsbedingungen garantieren, die für die Arbeit sinnvoll und die Beschäftigten tragbar sind. Die Rechnung 12 Jahre Qualifikation für etwa 24 Jahre vollwertige Berufstätigkeit ist ja an sich schon kritisch – aber das ist ja nicht einmal die ganze Rechnung, weil 12(+X) Jahre Qualifikation eben nur in einem Bruchteil der Fälle zu der anschließenden vollwertigen Berufstätigkeit führen. Auf Ebene der Betroffenen (und für die Steuerzahlenden) bedeutet das, dass all diejenigen, die beim Wettlauf um die begehrte Professur ausscheiden, sich umsonst für diese (und ab der Promotion eben nur für diese) qualifiziert haben. Auf institutioneller Ebene führt es dazu, dass die Universitäten zu drei Vierteln Menschen für Aufgaben beschäftigen, zu denen sie angeblich nicht hinreichend qualifiziert sind. Was soll man von einem Unternehmen halten, bei dem 75% der Angestellten quasi noch in der Ausbildung sind? Was sollen Studierende dazu sagen, dass 75% ihrer Dozierenden gar keine „Lehrerlaubnis“ haben?[1]
Der eine Weg zu reagieren ist, das Personal konsequent auf Professor:innen umzustellen und die Zahl der sich dafür Qualifizierenden auf Bedarfsdeckung auszurichten. Das ist der Weg der Juniorprofessuren mit Tenure Track. Im Vergleich zum Status Quo ist das ein guter Weg. Aber er setzt weiter auf Hochbelastung in der sensiblem Lebensphase der Familiengründung und er befördert das Höher-Schneller-Weiter nur umso mehr. Der andere Weg wäre, über den Qualifikationsbegriff selbst nachzudenken. Denn nur die wenigsten dürften der Meinung sein, dass man tatsächlich erst mit der Berufung auf die Professur in der Lage ist, den Beruf auszuüben, den man ja offenkundig seit vielen Jahren ausübt. Die „Einlasskontrolle“ für die Befähigung zum eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten muss die Promotion sein, weil genau das die Funktion der Promotion ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Fächern sollte das in den Geschichtswissenschaften allerdings kein allzu großes Problem sein, weil die Promotion in der Regel immer noch eine eigenständig verfasste Monographie ist.
Wenn also mit der Promotion die fachliche Eignung feststeht, muss alles, was danach noch an einer Festanstellung hindern kann, anders begründet sein. Ich bin durchaus bereit einzuräumen, dass es noch weitere Anforderungen an das wissenschaftliche Personal gibt. Im Gegensatz zum sinnbildlichen Elfenbeinturm wird an Universitäten nicht nur geforscht, sondern auch gelehrt. Für diejenigen, die die entsprechende Lehrerfahrung nicht bereits während der Promotion gesammelt haben, mag es sinnvoll sein, noch eine kurze Phase der „Bewährung“ anzuhängen, um die Befähigung dazu sicherzustellen. Dasselbe kann für potenzielle weitere Anforderungen gelten, solange sie sachgerecht ausgewählt und transparent vermittelt werden. Aber in dieser Phase muss die anschließende Überführung in eine echte Festanstellung schon die Norm sein: Die eigentliche Entscheidung muss zuvor fallen, hier geht es nur noch um ganz konkrete Hinderungsgründe.
Dieses Plädoyer für die Bedeutung der Promotion heißt nicht, dass man mit der Promotion alles erreicht hat, was man erreichen kann. Festanstellung und Professur müssen nicht zusammenfallen. Denn was könnte mehr mit lebenslangem Lernen verbunden sein als Wissenschaft? Die Geschichtswissenschaft stellt hohe Anforderungen und sie werden immer höher: Wo früher der Höhenkamm der Geistesgeschichte reichte, bedarf es heute – aus gutem Grund – eines weiteren Kontexts. Wo man früher mit einer Untersuchung zu England, Frankreich und dem Reich behaupten konnte, Europa erforscht zu haben, ist man heute sensibler. Wo man früher mit vier (alt-)europäischen Sprachen schon recht weit kam, stellt die Globalgeschichte – wenn man ihre Anforderungen ernst nimmt – heute größere Anforderungen. Wenn wir die Qualifizierungsphase nicht ins Unendliche verlängern wollen, müssen wir uns damit abfinden, dass es den Umschlagpunkt von Sich-Qualifizierend in Fertig-Qualifiziert nicht gibt. Wie in allen Berufen scheint auch hier ein gestuftes System sinnvoll, in dem davon ausgegangen wird, dass sich Menschen im Laufe ihrer Berufstätigkeit weitere Erfahrungen und Kompetenzen aneignen und damit für weitere Stufen qualifizieren.
Das bedeutet aber, dass nicht permanent Output produziert werden kann, sondern es auch Phasen für Input geben muss. Und eben dafür sind zuverlässige Beschäftigungs- und stabile Lebensverhältnisse förderlich. Denn mit dem festen Einstieg ist die existenzielle Unsicherheit behoben und damit die Voraussetzung für konzentriertes, selbstbestimmtes und motiviertes Arbeiten geschaffen. Warum halten es viele offenkundig für wahrscheinlicher, dass auf die erste Festanstellung mit anhaltender Leistungsverweigerung reagiert wird, als dass sich hochgradig motivierte Menschen vernünftige Ziele setzen werden und diese dann selbstbestimmt verfolgen? Die Chance, dass Menschen unter diesen Umständen offener, ausgeglichener und schlicht zufriedener sind, ist nicht ganz gering. Die Chance, dass sich das auch in ihrer Arbeit niederschlägt, ebenfalls nicht.
Konkrete Utopie – mein Wünsch-dir-was
Stellen wir uns das mal vor: Ich wähle ein Thema. Ich tue das nicht drei Tage nach Abschluss meiner Promotion, weil mein Arbeitsvertrag jetzt ein Habilitationsthema erfordert, sondern ich tue es, weil ich auf eine Frage gestoßen bin, die ich für interessant und erforschenswert halte. Meine Motivation dabei ist also auch nicht, dass es dafür gerade ein passende Förderlinie gibt, es eine strategisch-sinnvolle Erweiterung meines Karriereprofils ist oder zu dem großen Drittmittelprojekt an meiner Universität passt.
Dann erforsche ich es. Dafür muss ich nicht zuerst Anträge stellen und Mittel einwerben, sondern mir stehen Grundmittel zur Verfügung, die für die normalen Erfordernisse reichen. Wenn ich dafür in ein Archiv muss, ist das möglich. Wenn dafür ein Auslandsaufenthalt sinnvoll ist, ist das möglich. Wenn ich dafür neue Fremdsprachenkenntnisse brauche oder alte auffrischen muss, kann ich das machen. Ebenso, wenn ich mir dafür neue methodische Fähigkeiten aneignen muss. Es geht bei all dem nicht darum, in sechs Jahren fertig zu sein, sondern zu forschen.
Ich diskutiere meine Ergebnisse mit meinen Kolleg*innen – und zwar idealerweise mit solchen, die sich ebenfalls dafür interessieren und die nötige Zeit dafür haben, nicht mit solchen, die selbst völlig überarbeitet sind und es für einen lästigen Pflichttermin halten. Es entsteht also Austausch. Dieser mag zwar nicht frei von thematischen und methodischen Vorlieben und persönlichen Eitelkeiten sein, aber er ist frei von hierarchischen Beziehungen und Abhängigkeiten. Wenn Dissens entsteht, ist es eben Dissens. Aber er findet zwischen prinzipiell Gleichberechtigten statt und er entsteht aus einer Uneinigkeit in der Sache und nicht aus einem Konkurrenzverhältnis. Es gibt dabei keine persönlichen Vorteile zu erlangen, sondern nur die Sache voranzubringen.
Zudem wird er in der akademischen Öffentlichkeit ausgetragen: Wenn die von mir veröffentlichten Ergebnisse kritikwürdig erscheinen, werden sie kritisiert. Wenn ich sie für verteidigbar halte, verteidige ich sie. Was mir an der Kritik treffend erscheint, arbeite ich ein, denn darum geht es hier: konstruktiven Austausch, nicht eine persönliche Kränkung und auch nicht die Zerstörung einer Karriere, weil schlicht die Zeit fehlt, neue Anregungen aufzunehmen. All das findet mit offenem Visier statt, und nicht im anonymen Modus des Peer-Review, bei denen ein mir unbekannter Mensch unbekannter Expertise und unbekannter Motivationslage meine Forschung nicht als Peer diskutiert, sondern als Gatekeeper beurteilt.
Der dabei stattfindende Austausch zeigt, wie Geschichtswissenschaft funktioniert: Ein:e potenzielle:r Leser:in kann daran nachvollziehen, auf welcher Quellenbasis sich welche Aussagen treffen lassen – oder auch nicht. Es wird deutlich, was ein Argument zu einem Argument macht und welches mögliche Gegenargument es gibt. Es zeigt sich, dass Geschichtswissenschaft immer auch Interpretation ist, aber Interpretation auf einer bestimmten Grundlage. Es lässt sich nachvollziehen, wie empirisches Material und theoretischer Ansatz in Beziehung zueinander gesetzt werden können und welche Einwände dagegen möglich sind. Solche Auseinandersetzungen sind das eigentliche Herzstück unseres Metiers und zeigen viel mehr als fertige Ergebnisse. Wo sie im Dunkel der Vorzimmer, Peer-Reviews und Gutachten verschwinden, haben wir etwas falsch gemacht.
Jenseits des Pathos – Was noch zu sagen wäre:
Das Kernstück dieses Textes war – sicherlich nicht ganz kreativ – die Forderung nach mehr Freiheit im wissenschaftlichen Arbeiten. Was dabei am Ende rauskommt, weiß man natürlich nicht. Denn wenn man Menschen den Freiraum gibt, so zu handeln wie sie es für sinnvoll erachten, lässt sich schwer sagen, wie sie handeln werden. Beim Schreiben eines solchen Textes besteht immer die Gefahr, genau das Verhalten zu unterstellen, das man als Ergebnis sehen will. Nein, auch unter diesen Bedingungen wird nicht jede:r zur:m potenziellen Leibniz-Preisträger:in. Nein, auch unter diesen Bedingungen wird es Menschen geben, deren Lehre eher mittelmäßig ist und nicht jede:r wird die neue Freiheit nutzen, um sich diverse Zusatzkenntnisse anzueignen. Einige werden sich verstärkt auf digitale Methoden und neue Medien einlassen, andere nicht. Einige werden vermehrt in Austausch mit der Gesellschaft treten, andere das Ideal des abgeschlossenen Elfenbeinturms im engeren Sinne kultivieren. Bessere Arbeitsbedingungen geben die Möglichkeit zu Kreativität und Innovation, sie garantieren sie aber nicht.
Auf der anderen Seite sind Kreativität und Innovation auch nicht alles, was die Wissenschaft und die Universitäten leisten sollen. Wir sollten uns hüten, auf unsere eigene Antragslyrik hereinzufallen und uns auf den etwas merkwürdigen Geniekult zu kaprizieren, der letztlich nur dazu dient, die schlechten Arbeitsbedingungen zu rechtfertigen. Nein, ein:e Wissenschaftler:in ist kein ätherisches Wunderwesen, das sich von allein von Wissen ernährt und nichts mehr vom Leben verlangt, als forschen zu dürfen – am besten auch bis spät nach Mitternacht und an Sonn- und Feiertagen. Die meisten von uns sind Menschen und wollen es auch gerne bleiben. Und im universitären Alltag geht es nicht nur um bahnbrechende neue Ergebnisse, sondern auch um eine solide Vermittlung der Grundlagen. Es geht nicht immer um neue aufsehenerregende Methoden und Techniken, sondern manchmal „lediglich“ um akribische Quellen- und sorgfältige Editionsarbeit. Genau das aber kann unter den neuen Beschäftigungsbedingungen ebenfalls mehr Platz und Anerkennung finden. Wer nicht immer im Strudel der Drittmittelakquise behaupten muss, die Welt neu zu erfinden, kann auch eine Zeit lang einfach still vor sich hin arbeiten. Denn diese Arbeit ist letztlich die Basis, auf der alles weitere aufbaut.
Zudem wird es bei aller Freiheit verstärkt Mechanismen der internen Abstimmung geben müssen, um die unterschiedlichen Anforderungen des universitären Arbeitens zu koordinieren. Denn über das schöne Ideal des vertieften Forschens sollten wir nicht vergessen, dass es eben auch darum geht, Studierenden die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie in ihrem künftigen Arbeitsleben brauchen. Denn wenn wir schon Vielen frühzeitig die unsichere Chance nehmen, sich auf die Jagd nach der Professur zu begeben, stehen wir umso mehr in der Verantwortung, gangbare Alternativen zu ermöglichen. Die Verbreiterung der Festanstellungen jenseits der Professur ist nicht nur eine Chance für die – wenigen auserwählten – Beschäftigten und ihre Forschung. Sie ist auch eine Chance, die Lehre auf eine breitere Basis zu stellen: mit Digital Humanities etwa, die sowohl in Bibliotheken als auch Archiven hoch gefragt sind, an den meisten Universitäten bislang aber kaum in der Lehre vorkommen; mit den in Archiven erforderlichen Paläographie-Kenntnissen, die als unmodische Hilfswissenschaft aus dem Curriculum nahezu verdrängt wurde; aber auch mit Einblicken in Public History oder Museumstätigkeiten. Was sich an kleinen Universitäten schlecht ins Lehrstuhlkonzept einfügen lässt, lässt sich in einem Departmentmodell deutlich besser unterbringen.