Seit etwa anderthalb Jahren bin ich Doktorand am Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dort promoviere ich zu dem Thema Bildgewalt. Fotografien des Posierens aus dem „Ostfeldzug“ und ihre Biografien (1939–2023). Ich habe gerne Geschichte in Hamburg, Berlin und Jerusalem studiert und forsche zur Geschichte des Nationalsozialismus, zu Erinnerungskulturen, Rechtsradikalismus, Fotografien und Biografien.
Angelus Novus macht die Augen zu und träumt von Utopia
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Benet Lehmann
Ich liebe Geschichten. Das war schon als kleines Kind so, beim Vorlesen dieser großen Sachbücher über Dinosaurier, beim ersten Kinofilm, bei den Texten meiner Lieblingsbands. Und auch nach zwei Studiengängen, nach anderthalb Jahren als wissenschaftlicher Nachwuchs ist das unverändert so, nach mal schlechterer, mal besserer Fach- und Sachlektüre, nach zahlreichen spätnächtlichen Gesprächen über die Gegenwart von Vergangenem, nach endlosen Chatverläufen mit zu langen Texten an Freund*innen. Ich liebe es, Geschichten erzählt zu bekommen und zu erzählen. Ich liebe Museen, Bücher, Podcasts, Denkmäler, Fotoalben. Ich höre sogar zu, wenn Opa vom Krieg erzählt.
Die meiste Zeit forsche ich zu Gewalt. Da klingt es natürlich komisch, dass ich auch diese Geschichten scheinbar liebe. Ich erwische mich durchaus bei dem Gedanken, dass diese Geschichten am besten niemals passiert wären. Schon bei der nächsten Bewegung in meinem Kopf aber komme ich weg vom Wunschdenken und zurück in die zwingend chronoferenzische Lebensrealität (eines meiner Lieblingswörter, die Chronoferenz). Ich tröste mich damit, dass ich es liebe, dass diese Geschichten erzählt werden, um zu erinnern und Konsequenzen aus ihnen zu ziehen.
Damit bin ich nicht der Einzige. Natürlich haben sich nicht alle Geschichtsstudierenden aus Liebe zum Erzählen eingeschrieben und nicht jeder Doyen der Historiographie liebt das Tagesgeschäft, da mache ich mir keine Illusionen. Aber ein großer Teil derjenigen, die Geschichte zu ihrer Arbeit gemacht haben, kennen den Drang, sich mit ihr auseinandersetzen zu wollen. Sich dann im Auftrag der Gesellschaft, und finanziert von ihr, mit Geschichte zu beschäftigen, sie zu erforschen, zu lehren, zu erzählen, ist für mich ein großes Glück.
Warum machen wir das eigentlich?
Einfach aber ist das nicht, sonst gäbe es diesen Text nicht. Die Bedingungen für das professionelle Erforschen und Erzählen von Geschichte werden schwieriger. Ich will hier gar nicht wiederholen, was andere Autor*innen bereits und besser geschrieben haben. Copy&Paste von Zukunftsvisionen macht keinen Spaß, es erinnert mich nur daran, dass für die guten Arbeitsbedingungen gelungener Geschichtswissenschaften eigentlich alles gesagt wurde und trotzdem kaum etwas passiert. Vieles wurde bereits benannt, dem meisten stimme ich zu. Mein Favorit für den Strukturwandel an unseren Forschungsstätten ist Thorsten Logges Beitrag „Doing History im Zentrum für Public Humanities: Zukunftsräume für Geschichte schaffen“. Die ehrlichsten Antworten auf die beklemmenden Fragen von Doktorand*innen wie mich gibt Sibylle Röth in ihrem Beitrag „Utopien der Geschichtswissenschaft. Oder: (was) darf ich hoffen?“.
Auch das Prinzip Hoffnung der Historiker*innen muss mit den Kleinen Tagträumen anfangen. Dass das mit dem Träumen von Visionen und Utopien der Geschichtswissenschaften nicht immer funktioniert, ist nur allzu verständlich. Wer heute in die (Geistes-)Wissenschaften geht, muss sich der damit einhergehenden Fallstricke bewusst sein. Mal sind sie durch die Verträge des universitären Betriebs gespannt, mal warten sie vor der Tür des Unigebäudes und lassen das eigene akademische Projekt auf die Nase fliegen.
Meine Vision ist schlicht; sie gibt gar keine Lösungen für Probleme vor. Sie fragt nach dem Grund, warum es eine solche Faszination mit Geschichte in der Universität – von wahrscheinlich allen, die diesen Text lesen – und außerhalb der Universität gibt – von wahrscheinlich allen, die öffentliche Geschichte in all ihren Formen und Formaten interessant finden.
Menschen erzählen sich Geschichten, das ist eines der zentralen Merkmale, die sie zu Menschen machen. Für Romantisierung, Revisionismus und Ritualisierung ist an dieser Stelle kein Platz. Sicher, gerade die europäische Geschichtsschreibung erlebte ihre Geburtsstunde im irrsinnigen Ergründen der Volksherkunft, sehnte sich kurz danach nach allem ‚Fremden‘ dieser Welt und kann bis heute nicht die Finger von der Tradition einer Erfolgsgeschichte der Nation lassen. Mir geht es in diesem Utopia um die Neugierde an denen, die einmal waren und ihren Spuren, die in die Gegenwart getragen wurden.
Warum erzählen wir Geschichten? Wer erzählt hier eigentlich? Was wird nicht erzählt, was wird vergessen? Wer kann diesen Geschichten zuhören? Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Geschichten erzählt werden? Werden sie in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich erzählt? Wo, wann und wie werden Geschichten erzählt? Zu welchem Zweck?
Warum ist es so gekommen und nicht anders? Was ist nicht geschehen? Was bedeutet das für die Zukunft? Was passiert in anderen Geschichtskulturen? Lassen sich Geschichten auch anders erzählen? Warum wird Geschichte in der Zukunft imaginiert? Was lässt sich nicht erzählen? Was lässt Menschen verstummen?
Angelus Novus und die Historiker*innen
Walter Benjamin kaufte im frühen Sommer 1921 eine Zeichnung von dem Maler Paul Klee. Auf ihr ist ein Engel zu sehen, der Angelus Novus. Er sieht so gar nicht aus wie die, die ich als Kind in Kirchen sah. Seine Arme sind weit auseinandergestreckt, er hat riesige Ohren und die Haare sind vom Wind unordentlich. Sein Blick geht aus dem Bild heraus und immer, wenn ich ihn anschaue, kommt er mir ein klein wenig dümmlich vor. Es ist nicht der einzige Engel den Klee malte, aber wohl der berühmteste.
Etwa zwanzig Jahre später, kurz vor seinem Tod auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht verfasst Benjamin seine Thesen zur Geschichtskultur und schreibt über den Angelus Novus in Über den Begriff der Geschichte: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt.“
Und weiter: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. Der Engel der Geschichte muß so aussehen.“
Diese Textstelle gehört zu den Schlüsselstellen des Geschichtsverständnis vieler Historiker*innen; wenn auch zu einem, das sich der Kulturleistung vom Geschichte-Machen erst nach 1945, vielleicht sogar erst in den 1960er Jahren bewusst wurde. Auch auf meinem Schreibtisch steht eine Postkarte vom zerzausten Engel, ich habe sie mir im Auslandssemester in Jerusalem gekauft, deshalb bedeutet sie mir sehr viel. Durch das ständige Hin- und Herräumen von Büchern und Kaffeetassen ist sie lädiert, rechts hat sie ein unfreiwilliges Eselsohr. Auch das Original von Klee ist beschädigt und so fragil, dass es seit Jahren keine*n einzige*n Museumsbesucher*in gesehen hat.
Zum Träumen schließt der Engel die Augen
Wohl kaum eine Berufsgruppe identifiziert sich so stark mit Benjamins Engel wie die geschichtsliebenden Historiker*innen und alle, die das Erzählen von Geschichte zu ihrer Aufgabe gemacht haben. Es ist die poetische Zusammenfassung eines Geschichtsverständnis, das Zeit und Raum, Erwartung und Schmerz, Drängendes und Vergangenes ernst nimmt. Weder Klees gemalter noch Benjamins geschichtstheoretischer Engel ist transzendent oder mystisch. Es ist ein Vorgriff auf ein Verständnis von Geschichte als Grundlage für menschliches Leben.
Gegenwart hört nie auf zu geschehen und ihre Vergangenheit hört nie auf in Geschichte gegossen zu werden. Das weiß niemand besser als der Angelus Novus. Aber vielleicht tut es ihm gut, wenn er für einen kurzen Moment die Augen schließt und träumt. Gerade in Zeiten, in denen der Sturm stärker zu wehen scheint und es an Utopien fehlt, hilft die Rückbesinnung auf das erste Interesse an – und dieser Text endet mit – den Geschichten.