Ich habe nach zwei Berufsausbildungen und dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg als first generation academic Geschichte, Politikwissenschaft und Psychologie in Hamburg und Gießen studiert. Als non-tenured Juniorprofessor für Public History an der Universität Hamburg zähle ich mich zum Mittelbau+. In der Forschung arbeite ich u. a. über die Medialität und Performativität von Geschichte im öffentlichen Raum und bemühe mich um die Entwicklung einer forschungsorientierten Public History als erweiterte Historiographiegesschichte. Daneben interessiere ich mich für Formen und Formate des Lehrens und Lernens an der Hochschule und bin aktiv in den dafür einschlägigen Gremien der akademischen Selbstsverwaltung.
Doing History im Zentrum für Public Humanities: Zukunftsräume für Geschichte schaffen
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Thorsten Logge
Nicht nur die Geschichtswissenschaft, die Hochschulen insgesamt stehen im 21. Jahrhundert vor der Herausforderung, Wissens- und Wissenschaftskommunikation, Transfer, Civic Engagement, Partizipation und Citizen Science in ihren Portfolios zu entwickeln und auszubauen. Während es in den Naturwissenschaften bereits Modelle zur Beteiligung der Öffentlichkeit am Forschungsprozess gibt, stehen die Geisteswissenschaften hier in vielerlei Hinsicht noch zurück. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft, die zumindest in den historisch orientierten und arbeitenden Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle einnehmen könnte und sollte.
Wenn ich über die Zukunft der Geschichtswissenschaft nachdenke – und das geschieht zunehmend in Sorge –, dann stets eingebettet in Überlegungen, die für die Geisteswissenschaften insgesamt funktionieren können. Gerade Absolvent:innen geisteswissenschaftlicher Studiengänge sind häufig in Tätigkeitsfeldern tätig, in denen Kultur- und Kommunikationsaktivitäten im Mittelpunkt stehen. Geisteswissenschaftler:innen sind aktiv in der Wissens- und Wissenschaftskommunikation, entwickeln Formen und Formate des Wissenstransfers und beteiligen sich an gesellschaftlichen Diskursen in professionellen, politischen und privaten Kontexten. Die dafür nötigen Kompetenzen werden jedoch häufig nicht im Studium erworben, sondern informell und unsystematisch on the job. Daran haben auch Maßnahmen zur Steigerung der Employability und zum additiven Schlüsselkompetenzerwerb, die in einige Bachelor-Master-Programme implementiert wurden, wenig geändert. Zugleich sind die Geisteswissenschaften – und ganz besonders die Geschichtswissenschaft – in der Darstellung und Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse immer noch vorrangig dem Textmodell des 19. Jahrhunderts verbunden, obwohl die wichtigen gesellschaftlichen Diskurse längst in hoch differenzierten Medienlandschaften stattfinden.
Erstaunlicherweise findet der seit den 1960er Jahren sich ungebrochen entfaltende Geschichtsboom auch heute noch in weiten Teilen außerhalb und ohne die universitäre Geschichtswissenschaft statt, die zugleich dazu neigt, auf nicht-wissenschaftliche Geschichtsdarstellungen etwas pikiert herabzuschauen. Diskurs auf Augenhöhe ist unter diesen Vorzeichen kaum zu gestalten. Dabei ist angesichts der großen gesellschaftlichen Verunsicherungen und Herausforderungen eine aktive Diskursbeteiligung der Geschichts- und Geisteswissenschaften an gesellschaftlichen Debatten nötiger denn je. Eine Vernetzung mit der Gesellschaft sollte dabei nicht am Ende, sondern am Anfang aller Überlegungen stehen. Dafür allerdings braucht es geeignete und gestaltbare Räume – im Geiste, aber nicht nur dort.
Wenn wir über die Zukunft der Geschichtswissenschaft nachdenken wollen, dann müssen wir ganz besonders zwei Dimensionen aufmerksam betrachten: Die Räume, in denen sie stattfinden und auf die sie wirken soll – und die Praktiken, die damit verbunden werden. Ist die Universität dafür der geeignete Ort?
Ein Zentrum für Public Humanities
Da es an dieser Stelle möglich ist, sich einmal ungehemmt und völlig befreit von den Sachzwängen des universitären Alltags Dinge zu wünschen, möchte ich die Einrichtung eines Zentrums für Public Humanities (ZPH) vorschlagen. Ein Zentrum, das hochschulübergreifend interdisziplinäre Forschung, Lehre und interventionistische Aktivitäten im Feld der Third Mission, des Transfers und der Citizen Science zusammenführt. Ein Zentrum, das sich als Einrichtung der Forschung, der Lehre und der Bildung gleichermaßen versteht und für Hochschulen, Museen, Geschichtswerkstätten, Bildungsträger:innen im Feld der historisch-politischen Bildung sowie die allgemeine Öffentlichkeit da ist. Ein Zentrum, das keiner Hochschule unmittelbar und direkt zugeordnet ist, sondern Transfer, Wissens- und Wissenschaftskommunikation als Aufgabenfelder begreift, die unabhängig von hochschulstrategischen Interessen, Entwicklungen und Entscheidungen von der und für die jeweilige Region bestellt werden müssen – das aber zugleich wissenschaftlich aufgestellt und orientiert ist und eine wissenschaftsbasierte Weltaneignung und -darstellung betreibt.
Die im ZPH zu entfaltenden Forschungs-, Lehr- und Kommunikationsaktivitäten zeichnen sich aus durch eine hohe Interdisziplinarität. Die hier verhandelten Themen stellen sich zudem als grundsätzlich interdisziplinäre Herausforderungen dar, denen entsprechend auch vorwiegend in interdisziplinären Teams zu begegnen ist. Das ZPH ermöglicht innovative interdisziplinäre Forschung, Lehre und Praxis in zentralen gegenwärtigen Handlungsfeldern der Geschichts- und Geisteswissenschaften und der Hochschulen insgesamt. Das Zentrum ist strukturell verankert, nachhaltig aufgestellt und für Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichermaßen zugänglich. Es kann Hochschulen und andere wissenschaftliche Einrichtungen bei der Entwicklung und Erprobung von Transferaktivitäten unterstützen. Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft kann es bei der Planung und Umsetzung medialer Darstellungsprojekte beraten und wäre somit immer auch Ermöglichungsagentur auf dem Feld der digital literacy.
Im Feld der Public History treibt das ZPH nicht zuletzt die Ausbildung und Entwicklung analytischer und generativer Medien- und Geschichtssortenkompetenz voran, die dazu beiträgt, mediale Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftserzählungen in ihren jeweiligen medialen Settings zu erkennen, zu erschließen, kritisch zu reflektieren – und diese auch selbst herzustellen. Die dabei erworbenen Kompetenzen sind im Zuge der digitalen Transformation und Ausweitung der Erinnerungskultur sowie ihrer medialen Differenzierung und Entgrenzung im 21. Jahrhundert besonders gefragt und für eine nachhaltige Weiterentwicklung der demokratischen Geschichts- und Debattenkultur unabdingbar.
Glokal forschen, lehren und intervenieren
Das ZPH bespielt unterschiedliche Forschungs- und Tätigkeitsfelder mit Mitarbeiter:innen, die „Virtual Faculties“ in ihrem jeweiligen Feld aufbauen und sich regional, überregional, national und international vernetzen. Die Virtual Faculties führen so internationale Expertise zusammen und generieren Forschungs- und Lehraktivitäten in globalen Netzwerken unter Nutzung digitaler Tools.
Neben den Forschungsfeldern werden Labs eingerichtet, in denen Hard- und Software sowie die zugehörige Produktionsinfrastruktur auf dem jeweils aktuellen Stand der Technik bereitgestellt wird. Mit ihr lassen sich Forschungs-, Lehr- und Darstellungsprojekte aller Art realisieren. Hier werden auch Multiplikator:innen, (Hochschul-)Lehrer:innen, und Bürger:innen beraten und bei der Umsetzung von (Lehr-)Projekten unterstützt. Die Labs sind somit gleichermaßen Forschungslabore, Inkubatoren, Qualifikations- und Produktionswerkstätten. Die in ihnen tätigen Mitarbeiter:innen entwickeln die Infrastruktur kontinuierlich forschend weiter.
Die Mitarbeiter:innen am Zentrum für Public Humanities
Forschen …
… zu zentralen Fragen in den Feldern Wissens- und Wissenschaftskommunikation, Transfer und Citizen Science. Forschungsschwerpunkte sind u. a. Public Humanities, Public History, Mediologie, Medienphilosophie, Fake News, Visual und Sound Studies, Partizipation in den Humanities, partizipative Historiographie, Ästhetiken des Erzählens, multimodales Erzählen, Storytelling (transmedial) und Citizen Science. In den Virtual Faculties, in denen Forscher:innen mit nationalen und internationalen Expert:innen tätig sind, werden lokale und globale Handlungsfelder vernetzt und in produktiven Austausch gebracht. Das ZPH vereint so lokales Handeln mit globaler digitaler Vernetzung in Forschung, Lehre und Intervention. Die Forschung kann stets auch in Citizen-Science-Formaten angelegt und realisiert werden.
Lehren …
… in selbstentwickelten, hochschulübergreifenden und interdisziplinären Studiengängen (z. B. Public Humanities, Public History, Mediologie). Sie entwickeln Open Educational Resources, die von Schulen und anderen Einrichtungen übernommen und in die Lehre integriert werden können.
Anstelle wöchentlicher Linienlehre dominieren am ZPH Projektlehre, problembasiertes und forschendes Lernen. Digitale Erweiterungen der Präsenzlehre in hybriden Formaten ermöglichen auch transnationale und globale Lehrformate. Für Hochschulen entwickelt das ZPH in Kooperation mit Hochschuldidaktiker:innen innovative Lehr-, Studiengangs- und Prüfungsformate aller Art – von der Entwurfsskizze bis zu Ausfüllrechnungen von Studiengängen oder Bausteinen für fachspezifische Bestimmungen oder Modulhandbücher für (Teil-)Studiengänge. An der Weiterentwicklung von Lehrplänen wirkt das ZPH beratend mit.
Durch die Lab-Struktur kann das ZPH Projekte von Volkshochschule bis Hochschule betreuen und so Aktivitäten von der institutionalisierten historisch-politischen Bildung und der Lehrer:innenbildung bis zu Individual- oder Gruppenprojekten begleiten. Das Zentrum wird dadurch Ort und Akteur des Empowerments in der Region, deren Bürger:innen es bei der Entwicklung und dem Ausbau von digital literacy sowie von Medien- und Geschichtssortenkompetenz hilft. Es unterstützt somit mündige Bürger:innen auf allen Qualifikationsstufen dabei, kritisches Subjekt von medialen (historischen) Erzählungen zu werden und zu sein – und nicht deren Objekt.
Intervenieren …
… durch internes und externes Consulting sowie die Entwicklung und Erprobung von Transferformaten in digitalen und analogen Räumen. Alle Mitglieder des ZPH verstehen sich immer auch als Bürger:innen der Region und übernehmen durch ihr aktives Engagement in gesellschaftlichen Diskursen und Debatten (aktivierend, moderierend, inkubierend, konfrontierend und vermittelnd) Verantwortung, indem sie gemeinsam mit der unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft die Erinnerungs- und Geschichtskultur der Stadt aktiv mitgestalten und den Bürger:innen dabei helfen, Ausdrucks- und Darstellungsformen zu finden und zu bespielen, um zukünftig auch ihre eigenen Anliegen wirksam zum Ausdruck zu bringen.
Mehrdimensionale Teilhabe: Verflechtung durch Teilhabe
Projekt- und Forschungsergebnisse werden in unterschiedlichen Darstellungsmodi über die ZPH-Labs aufbereitet und für fachliche wie allgemeine Öffentlichkeiten ausgespielt (open access). Sie werden zudem genutzt, um Studiengänge, digitale Lehr-Lern-Module, Projektseminare, Fortbildungsangebote und Lehr-Lern-Materialien zu entwickeln und als Open Educational Resources bereitzustellen.
Die Mitglieder des ZPH beteiligen sich aktiv an aktuellen gesellschaftlichen Debatten und Diskursen. Sie organisieren und moderieren in Zusammenarbeit mit thematischen Expert:innen und Initiativen Round Tables oder Panel-Diskussionen und initiieren bzw. unterstützen proaktiv Vorträge, Ausstellungen oder Studien zu gegenwartsrelevanten und aktuellen Themen in der Region.
Das ZPH nutzt alle relevanten Kanäle für die Teilnahme an öffentlichen Diskursen und hat die zeitlichen Freiräume, auch tagesaktuell auf Entwicklungen zu reagieren. Veranstaltungen finden gleichermaßen in der öffentlichen Bücherhalle/Bibliothek, im Feuilleton, auf Twitter, Instagram, Telegram und TikTok statt. Partizipation an öffentlichen Diskursen bedeutet auch, dass sich die Mitglieder des Zentrums da bewegen, wo die Menschen längst sind: auf den medial hoch differenzierten und dynamischen Meinungsmärkten der Gegenwart und Zukunft.
Die Mitglieder des ZPH sind auch selbst aktiv in den Social-Media-Netzwerken und werden als Diskursteilnehmer:innen mit eigenen inhaltlichen Positionen sichtbar und wirksam. Den Bürger:innen der Stadt ermöglichen und erleichtern sie die wirksame Teilnahme an relevanten gesellschaftlichen Debatten, indem sie ihnen Zugänge zu technischen Medien eröffnen und ihnen dabei helfen, die Produktionsmittel des Meinungsmarktes zu verstehen und zu bedienen.
Indem alle Formate der Wissensvermittlung als eigenständige Diskursfelder verstanden und gewürdigt werden, finden die Interventionen des ZPH auf Augenhöhe statt. Vor- und Nachteile unterschiedlicher Formen der Wissensgenerierung und -darstellung sowie die mit verschiedenen Kanälen verbundenen medialen und diskursiven Eigenlogiken werden erforscht, thematisiert und vermittelt. Interventionen und gesellschaftliche Diskurse sind heute stets cross-, inter-, trans- und multimedial zu verstehen und zu gestalten.
Nachhaltige Innovation durch personelle Kontinuität
Alle Beschäftigungsverhältnisse am ZPH sind unbefristet, um Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Das ZPH setzt sich damit bewusst vom ausufernden Befristungswesen der Hochschulen ab und ermöglicht nachhaltige Innovation durch personelle Kontinuität und Integrität des Teams. Darüber hinaus können die Forschungs- und Tätigkeitsfelder sozialversicherungspflichtig entlohnte Fellowships vergeben, um temporäre Projekt- oder/und Qualifikationsarbeiten in flexibel befristeten Projektstellen unterschiedlicher Laufzeit zu ermöglichen. Die Mitarbeiter:innen in den Forschungsfeldern sollen wissenschaftspolitisch frei agieren können und keinen disziplinären Zwängen unterliegen. Diese Freiheit wird durch unbefristete Arbeitsverhältnisse erst gewährleistet und gestärkt. Eine Anbindung an die Hochschulen kann durch die Abordnung und Einbindung existierender Professor:innen erfolgen.
Zukunft braucht Geschichte
Die Krise der Geschichtswissenschaft drückt sich in vielen Dimensionen aus. Die Studierendenzahlen sinken, der Rückgang des Schulfachs Geschichte trägt dazu bei, dass das Fach zunehmend unter Druck gerät. Insbesondere für Schüler:innen aus nicht-akademischen Haushalten stellen sich die Zukunftsperspektiven eines Geschichtsstudiums außerhalb des Lehramts als unklar und unspezifisch dar. Wer das Studium auch als Schlüssel zu einem erfolgreichen Erwerbsleben in der Zukunft sieht, dessen Wahl fällt nicht zuerst auf das Studium der Geschichte. Dieser Niedergang des Faches steht in einem deutlichen Kontrast zur ungebrochenen Attraktivität von Geschichte außerhalb von Schule und Universität. Geschichte ist allgegenwärtig – in zahllosen und Dank sich weiter entwickelnder digitaler Welten sogar noch zunehmenden medialen Formaten. Sie prägen Geschichts- und Erinnerungskultur, Geschichtsbilder und Geschichtsbewusstsein weit mehr, als es die universitäre Geschichtsschreibung oder die Schule vermögen. Geschichte findet statt – immer mehr und in immer diverseren Formen. Und auch die Aktivist:innen von Fridays for Future argumentieren letztlich historisch, wenn sie im Futur II die Gegenwart aus einer angenommenen Zukunft zurückblickend beschreiben und bewerten.
Es braucht eine forschungsorientierte Public History, die sich diesen Formen und Formaten forschend nähert – im Sinne einer erweiterten Historiographiegeschichte, die auch und ganz besonders nicht-textuelle Geschichtsdarstellungen und die Praktiken des Geschichtemachens erforscht, die diese hervorbringen. Geschichtswissenschaft kann sehr gut gesichertes Wissen über die Vergangenheit herstellen und auch darstellen. Daneben gibt es zahlreich das ungesicherte, unscharfe, auch falsche Wissen über die Vergangenheit. Dieses verschwindet aber nicht, nur weil es von Universitätshistoriker:innen als unwissenschaftlich markiert wird. Wir brauchen neue Formate des Forschens, Lehrens und Lernens, die sich mit den Public Histories in ihren vielen Erscheinungsformen angemessen und fair beschäftigen. Das geht nicht allein aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive – dafür braucht es alle historisch arbeitenden Geisteswissenschaften. Ein Zentrum für Public Humanities kann der Ort sein, an dem diese Auseinandersetzung stattfinden kann: Forschend, Lehrend, Lernend, Intervenierend – und nicht im Selbstgespräch, sondern im Austausch mit der Welt, in der es steht.