Seit März 2023 bin ich Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Paris Lodron Universität Salzburg. Für mich ist das ein großes Glück – nicht nur wegen der unbefristeten Stelle (natürlich auch), der neuen Kolleg*innen (sie sind super) und der Stadt (sie ist auch für Menschen, die nicht auf Mozart und Barock stehen, ein Traum), sondern leider auch, weil es mir hilft, Abstand vom deutschen Wissenschaftssystem zu gewinnen. In der österreichischen Wissenschaft ist sicherlich nicht alles besser, aber für mich ist es wie ein Neuanfang, den ich nach meinen Erfahrungen in Deutschland auch nötig hatte. Zuvor habe ich lange an der TU Darmstadt gearbeitet (Promotion und Habilitation). Meine Erinnerungen an diese Zeit sind zweigeteilt: Auf der einen Seite stehen die Kolleg*innen und Professor*innen am Institut für Geschichte, die für mich da waren und das Institut zu einer Art „zweiter Heimat“ gemacht haben. Einige von ihnen sind auch Vorbilder für die Dinge, die ich in diesem Beitrag beschreibe. Auf der anderen Seite steht die Leitung der TU Darmstadt, die meine negativen Erfahrungen ganz wesentlich geprägt hat. Nie vergessen werde ich die Ansage: „Sie sollen als wissenschaftlicher Mitarbeiter nichts leisten, sie sollen sich qualifizieren“ (die Overheadmittel aus meinen Drittmittelprojekten hat man natürlich gerne trotzdem einbehalten). Eine wichtige positive Erfahrung, die mich auch zum Verfassen dieses Beitrags angeregt hat, waren die letzten beiden Jahre, die ich an der Universität Antwerpen verbracht habe. Aus Gründen, die vermutlich mit der belgischen Kultur zu tun haben, haben die Kolleg*innen dort deutlich mehr Zeit – also eigentlich genauer, sie nehmen sich die Zeit einfach!
Über glückliche Historiker und Historikerinnen, Zeit und Citizen Science
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Sebastian Haumann
Als ich in einem ersten Versuch über meine Utopien für die Geschichtswissenschaft geschrieben habe, hat das nicht funktioniert. Fast reflexartig haben sich die negativen Erfahrungen mit dem deutschen Wissenschaftssystem in den Mittelpunkt gedrängt. Deshalb habe ich noch einmal neu angesetzt und mich gefragt, wann ich in meinem Beruf eigentlich zufrieden und glücklich bin – oder, um es etwas weniger subjektiv zu formulieren, wann meine Arbeit am produktivsten ist und den größten Gewinn für mich und andere bringt. Diese Frage war viel einfacher zu beantworten als die nach der Utopie und sie hat mir geholfen, die negativen Emotionen zu verdrängen. Deshalb fange ich genau dort an.
Am glücklichsten bin ich, wenn ich mir Zeit für andere nehme. Seminare gehören oft zu den Highlights meiner Arbeitswoche, wenn wir gemeinsam an Hausarbeitsthemen basteln und versuchen, gute Fragestellungen zu entwickeln, die Forschungslage diskutieren und über mögliche Quellen nachdenken. Das erste Dissertationsprojekt, das ich betreut habe, hat mir gezeigt, wie produktiv die Zusammenarbeit mit einer Kollegin sein kann, die in vielen Fragen – nicht nur wissenschaftlichen – andere Ansichten vertritt als ich. Mein Lieblingsgenre unter den wissenschaftlichen Texten sind Antragsentwürfe und Aufsatzmanuskripte, über die ich mit Kolleg*innen ins Gespräch kommen kann. Natürlich ist es schön, wenn man das Gefühl hat, andere unterstützen zu können. Aber mich treibt nicht unbedingt die Selbstlosigkeit an, oder die Erwartung, mit meinen Kommentaren zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen. Da ist noch etwas anderes.
Wenn ich mir Zeit für andere nehme, nehme ich immer auch etwas mit. Es sind kreative Momente, in denen neue Ideen entstehen, sich neue Herausforderungen auftun und neue Perspektiven herausbilden – manchmal in der gemeinsamen Diskussion, manchmal erst nach längerem Nachdenken, Wochen oder Monate später. Dabei muss es gar nicht um hoch anspruchsvolle Kontroversen um die neuesten Theorien gehen. Es reicht schon, wenn eine spannende Quelle auftaucht oder vermeintlich klare Ansichten sich als nicht so eindeutig erweisen. Dann muss man neu nachdenken und neue Lösungen finden. Das kann anstrengend und manchmal verstörend sein, aber am Ende bringt es einen Gewinn für die Forschung oder auch die Lehre. Vermutlich ist der Prozess, den ich hier beschreibe, ganz normal und sicher bin ich nicht der einzige, den solche Erlebnisse glücklich machen. Und doch habe ich den Eindruck, dass genau dieser Prozess in der Geschichtswissenschaft der Zukunft zu einer viel selbstverständlicheren Grundlage unserer Arbeit werden muss – und hier setzt meine Utopie ein.
Seit ein paar Jahren beschäftigen mich Konzepte, die allgemein unter dem Schlagwort Citizen Science diskutiert werden. Unabhängig von den vielen epistemischen und ethischen Fallstricken, die damit verbunden sind, fasziniert mich die Idee der „two-way science communication“: also die Forderung, dass wir als Wissenschaftler*innen unsere Erkenntnisse mit „der Gesellschaft“ teilen sollen, aber auch, dass wir das Wissen und die Interessen „der Gesellschaft“ aufgreifen sollen. Das erinnert mich immer an die Momente, in denen ich in meinem Beruf am glücklichsten bin und die ich auch als die produktivsten Momente wahrnehme. Die Herausforderungen sind natürlich nochmal ganz andere, wenn man Citizen Science ernst nimmt, weil sich „die Gesellschaft“ in der Regel als sperriger erweist als die Studierenden im Seminar oder Kolleg*innen, die ihre Antragsentwürfe zur Diskussion stellen. Meine Erfahrungen mit lokalen Geschichtsvereinen, also überwiegend Männern im fortgeschrittenen Alter mit eher konventionellen Geschichtsvorstellungen (eine Kollegin nannte sie liebevoll „Heimathirsche“) unterstreichen das. Trotzdem ist es weder aussichtslos noch unproduktiv, sich auch auf diesen Austausch einzulassen. Wenn man nicht gerade mit fundamentalistischen Wissenschaftsskeptikern zu tun hat – eine absolute Ausnahme – hört sich „die Gesellschaft“ gerne an, was wir zu sagen haben, sie erwartet aber auch, dass wir zuhören und sie ernst nehmen!
An dieser Stelle hakt es oft – und das hat damit zu tun, dass wir uns viel zu selten bewusst machen, dass wir auch etwas mitnehmen können, wenn wir in diesen Austausch eintreten. Dazu müssen wir aber das Zuhören (und Lesen) neu lernen. Denn die kreativen Momente, die ich weiter oben beschrieben habe, entstehen nicht nur an den Universitäten, sondern vielleicht noch viel mehr, wenn wir uns mit Menschen auseinandersetzen, die aus einem ganz anderen Kontext kommen. Das klingt banal, aber wenn ich an die Vorbehalte z.B. gegenüber den „Heimathirschen“ und ihren Publikationen denke, müssen viele akademische Historiker*innen doch über ihren Schatten springen, um dahin zu kommen. Oder, etwas allgemeiner ausgedrückt: wir müssen lernen, uns auch mit historischem Wissen auseinanderzusetzen, das aus wissenschaftlicher Sicht inadäquat oder sogar inakzeptabel ist. Einerseits, weil wir dadurch die Produktion von historischem Wissen jenseits der Universität besser unterstützen können als durch reine Wissensvermittlung. Andererseits weil darin ein unheimlich großes Potenzial liegt, um unsere Forschung und Lehre zu bereichern. Das setzt aber voraus, dass wir uns nicht als „Experten“ verstehen, sondern uns aktiv – und am besten empathisch, aber keineswegs unkritisch – mit dem beschäftigen, was unterschiedlichste Menschen über Geschichte sagen oder schreiben. Im Mittelpunkt meiner Utopie steht also die Vorstellung, dass Historiker*innen eine ganz neue Rolle finden, und zwar eine Rolle, die bei dem ansetzt, was für mich und vermutlich viele Kolleg*innen die glücklichsten und produktivsten Momente unseres Berufs sind.
Wenn ich behaupte, dass wir diese Momente viel selbstverständlicher und selbstbewusster zur Grundlage unserer Forschung, Lehre und schließlich auch der Citizen Science machen müssen, impliziert das natürlich eine Kritik an dem Status quo. Ich habe eingangs ganz bewusst geschrieben, dass ich mir Zeit nehme (was mir, ganz ehrlich, nicht immer gelingt). Das ist wörtlich gemeint, denn in dem bestehenden Wissenschaftssystem wird diese Zeit eigentlich nicht honoriert, sie wird genaugenommen sogar verdrängt. Vieles wird gemessen und evaluiert, aber nicht, wie viel Zeit ich nach dem Seminar noch mit meinen Studierenden verbringe, oder ob ich mit Kolleg*innen über Antragstexte spreche, auf denen mein Name nicht draufsteht. Natürlich kann das zu messbaren Resultaten führen, wenn aus dem Gespräch irgendwann doch ein gemeinsamer Antrag erwächst, aber das Risiko, dass nichts dabei herauskommt, trage ich. Es gibt Kolleg*innen, die schärfer kalkulieren als ich und deswegen lieber auf einen solchen Zeiteinsatz verzichten. Vor allem aber gibt es Kolleg*innen, die aus vielerlei Gründen – nicht zuletzt aufgrund befristeter Stellen – auf einen solchen Zeiteinsatz verzichten müssen. Bei der Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb der Wissenschaft ist das Risiko sogar noch größer. Es wird zwar zunehmend eingefordert und auch gefördert, wissenschaftliche Erkenntnisse öffentlichkeitswirksam zu präsentieren („Dissemination“), eine wirkliche Auseinandersetzung („two-way science communication“), wie sie meiner Utopie zugrunde liegt, ist das aber gerade nicht. Die Austauschprozesse, die ich als produktiv erlebe, sind oft unkalkulierbar, ihr Ausgang ungewiss und offen – ein Wissenschaftssystem, das so risikoavers ist, wie das gegenwärtige deutsche, wird diese Produktivität nicht nutzen können. Mein persönlicher Weg aus diesem Dilemma: ich suche bewusst nach Lücken im System, um das zu tun was mich glücklich macht und den größten Gewinn für mich und andere bringt. Die Suche hat erst begonnen …