Ich zähle zur Gruppe der Privatdozent:innen und vertrete zur Zeit die Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU München. Zu meinen Forschungsthemen zählen u.a. jüngere Entwicklungen des Wissenschaftssystems in Deutschland.
Eine moderne Geschichtswissenschaft umfasst moderne Personalstrukturen
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Ariane Leendertz
Was sind die zentralen Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft? Oder: Wo steht die Geschichtswissenschaft deshalb gegenwärtig?
Zunächst einmal: Ist es überhaupt möglich, den Standort „der“ deutschen Geschichtswissenschaft zu bestimmen? Nur die wenigsten haben einen Überblick über die ganze Breite des Fachs von der Antike bis zur Zeitgeschichte. Die jeweiligen epochenspezifischen Teilfächer arbeiten mit unterschiedlichen Methoden und Themenschwerpunkten, die innerfachlichen Diskurse und Referenzsysteme unterscheiden sich ebenso wie die außerwissenschaftlichen Bezüge und Berufsfelder. Trotzdem gibt es ein übergreifendes Problem der Geschichtswissenschaft in Deutschland: Sie gehört zu den Fächern, in denen sich eine Reihe der strukturellen Fehlentwicklungen des deutschen Wissenschaftssystems besonders stark manifestieren. Dazu zählen die Folgen des Ungleichgewichts zwischen Drittmittel- und Grundfinanzierung; der Mangel an festen Stellen für hoch qualifizierte Wissenschaftler:innen; ein gigantisches Flaschenhalsproblem; und die Persistenz hierarchischer Abhängigkeitsverhältnisse und Machtasymmetrien. Die Geschichtswissenschaft kann man, wie etwa auch die Rechtswissenschaft oder die Theologie, als strukturkonservatives und reformskeptisches Fach charakterisieren. Wer dies nicht glauben mag, sei an die Diagnose der internationalen Expertenkommission erinnert, die 1999, also vor mittlerweile fast einem Vierteljahrhundert, die Wissenschaft in Deutschland folgendermaßen kritisierte:
„Strukturen und Dauer der Nachwuchsqualifizierung im deutschen Universitätssystem sind international nicht kompatibel. Die verschiedenen Qualifizierungsstufen werden erst in einem vergleichsweise hohen Alter absolviert, in dem es schwierig ist, alternative Karrierewege außerhalb der Hochschulen zu beschreiten. Die Habilitation als Regelvoraussetzung für eine Berufung auf eine Professur und das Fehlen eines ‚tenure tracks‘ für Nachwuchskräfte führen zu einer unvertretbar lang andauernden persönlichen und wissenschaftlichen Abhängigkeit. Zudem erweist sich die Habilitation vielfach als eine besondere Hürde für die Karriere von Frauen, weil sie die Verbindung von wissenschaftlicher Berufstätigkeit und Kindererziehung in einer für die Familiengründung entscheidenden Lebensphase erschwert.“ [1]
Diese Diagnose trifft auf die Geschichtswissenschaft noch immer zu. Vor knapp zwanzig Jahren betrug das durchschnittliche Habilitationsalter im Fach laut Statistischem Bundesamt übrigens 40,9 Jahre. Bis 2021 ist es auf 43,7 Jahre gestiegen.[2]
Kritik an den Strukturen wurde zuletzt vor allem von Angehörigen des so genannten Mittelbaus formuliert, der sich auf #IchbinHanna die Finger wund twitterte oder – wohl der häufigere Fall in unserem Fach – sich nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern traute. Den Aufruf der Initiative #profsfürhanna unterzeichneten jüngst auch eine Reihe von Historiker:innen – ein wichtiger Schritt, der gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass wir es zwischen den Statusgruppen mit überaus unterschiedlichen Interessen zu tun haben. Gegenwärtig sind die Personalstrukturen extrem unausgewogen, die Karrierewege und beruflichen Perspektiven im Fach sind etwa in der Neuesten Geschichte so prekär wie selten, Berufungs- und Besetzungsverfahren sind intransparent und ähneln oft einem Glücksspiel, einer notwendigen Kontinuität in der Lehre und Betreuung stehen die Befristungs- und die verbreitete Vertretungspraxis entgegen, das ständige Schreiben von Drittmittelanträgen verbrennt Arbeits- und Lebenszeit.
Was zeichnet die deutsche Geschichtswissenschaft aus? Welche bestehenden Aspekte sollten gestärkt werden?
Besonders im Kontrast zur Soziologie ist mir aufgefallen, dass man in der deutschen Geschichtswissenschaft trotz der unterschiedlichen Epochen- und geographischen Schwerpunkte noch immer von einer Einheit des Fachs sprechen kann. Während die Soziologie auf der Ebene der Fachorganisation in zahllose Teilsektionen zerfällt, die untereinander teilweise nicht gesprächs- und kooperationsfähig sind, ja sich sogar gegenseitig bekämpfen, sticht namentlich auf den Historikertagen ein geradezu harmonischer Umgang zwischen den geschichtswissenschaftlichen Teilfächern ins Auge. Dies ist meines Erachtens eine große Stärke des Faches. Ein Grund dafür liegt wohl auch darin, dass Geschichte, und zwar die ganze Geschichte, nach wie vor Pflichtfach in den Schulen ist. Dadurch ist die Geschichtswissenschaft weniger öffentlichem und politischem Legitimationsdruck ausgesetzt als Teile der Sozialwissenschaften oder die so genannten kleinen Fächer. Alle Bürger:innen sind in der Schule wenigstens einmal im Leben in Kontakt mit historischem Grundwissen gekommen. Mit dem Fach Geschichte kann jeder und jede irgendetwas assoziieren. Außerdem müssen Bachelor- und Lehramtsstudierende an vielen Universitäten die ganze Breite des Faches abdecken. Dies spiegelt sich in der Struktur der Lehre ebenso wider wie in der Organisation und im Selbstverständnis des Faches, wie es in den Fakultäten und im VHD repräsentiert ist. Ich halte das für ein wichtiges Pfund, da es nach außen hin Geschlossenheit demonstriert, die in die öffentliche und politische Wahrnehmung ausstrahlt. Nach innen steht die Einheit des Fachs für einen kollegialen Umgang untereinander, für die Anerkennung der Relevanz und Existenzberechtigung aller Epochen, die das Fach in seiner Gesamtheit ausmachen.
Wie sieht die beste aller Zukünfte der Geschichtswissenschaft aus? Und was machen wir da auf welche Weise, wenn es keinerlei Beschränkungen irgendwelcher Art gäbe?
Eine „moderne“ Geschichtswissenschaft umfasst nach meinem Verständnis „moderne“ Personalstrukturen, die sich vom Modell der hierarchischen Lehrstuhl- und Befristungspraxis lösen und faire Beschäftigungsverhältnisse, transparente Besetzungsverfahren und leistungsorientierte Aufstiegsmöglichkeiten neben der Professur einschließen. Die beste aller möglichen Geschichtswissenschaften verabschiedet sich von einem Selbstverständnis, das die wissenschaftliche „Karriere“ und „Qualifizierung“ auf das Erreichen einer Professur zuspitzt. Die Überhöhung der Professur gehört der Vergangenheit an. Die Professor:innen verzichten auf Rechte und Privilegien wie zum Beispiel die eigenen Mitarbeiterstellen, die stattdessen von einer Fakultäts- oder Institutskommission auf der Basis von Ausschreibungen gemeinsam besetzt werden. Sie schaffen dafür unterschiedliche Stellenprofile, die eine gemischte Altersstruktur sicherstellen und die jeweiligen Bedürfnisse der Fakultät / des Departments / des Instituts in Lehre, Forschung und Administration adressieren. Die Festanstellung nach zwei Jahren Probezeit nach der Promotion ist hierfür der Regelfall. Das reformierte WissZeitVG regelt nur noch die Zeit bis zur Promotion. Danach gelten die normalen Regelungen des öffentlichen Dienstes.
Für die freie Gestaltung ihrer Personalstrukturen stellt die Universität den Fakultäten einen Globalhaushalt zur Verfügung. Planstellen und Stellenpläne, die von staatlicher Seite genehmigt werden müssen, gibt es damit nicht mehr. Die Hochschul- und Fakultätsautonomie wird entschieden gefördert. Auf ihrer festen Stelle können sich die promovierten Forschenden und Lehrenden für eine Professur weiterqualifizieren oder sich im Bereich der Lehre, Forschung oder Administration spezialisieren. Die einen Stellen haben einen stärkeren Schwerpunkt in der Forschung und richten sich besonders an Promovierte mit herausragender Doktorarbeit. So wird die Forschung am Department gestärkt. Andere Stellen haben einen stärkeren Schwerpunkt in der Lehre, andere in Wissenschaftsorganisation und -management. Ausgehend von der ersten Festanstellung gibt es verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten durch den Wechsel auf eine besser dotierte Stelle (von Tv-L 13 bis Tv-L 15Ü) am selben Ort oder auswärts. Auf der Basis der Festanstellung sind also flexible Karrierewege möglich. Wer sich nach der Promotion in besonderem Maße profiliert, qualifiziert sich damit für eine höher dotierte Stelle, für die eine längere Berufserfahrung erwünscht und die mit zusätzlicher Verantwortung verbunden ist. So ist weiterhin eine gewisse Dynamik im Personal garantiert, das nur im Ausnahmefall sein Leben lang auf der ersten festen Stelle verbleibt. Die festen Mitarbeiter:innen haben in den Gremien eine angemessene Mitsprache und sind Mitglied einer Fakultät mit flachen Hierarchien.
Die Finanzierungsstrukturen müssen dementsprechend zugunsten der Grundmittel umgeschichtet werden. In einer modernen Geschichtswissenschaft sind sie derart beschaffen, dass individuelle Forschung aus der Grundfinanzierung heraus möglich ist. Hier wäre an eigene, auf Fakultätsebene nach Mehraugenprinzip zu verteilende Forschungspools zu denken. Für größere Forschungsvorhaben existieren weiterhin gesonderte Förderformate etwa der DFG, deren Etat indes erheblich gekürzt wird. Der Bund als größter direkter und indirekter öffentlicher Drittmittelgeber ordnet dazu seine Finanzierungsstrukturen neu und schichtet zwei Drittel der Mittel der DFG und des BMBF in den verstetigten Zukunftsvertrag um. Diese Mittel fließen so in die Grundfinanzierung der Länder mit ein, die in ihren Mitteln parallel zu den Bundesmitteln einen fest vereinbarten jährlichen Aufwuchs und einen festen Anteil an der Gesamtfinanzierung garantieren müssen, wie es auch im Pakt für Forschung und Innovation praktiziert wird.
Die Forschung aus der Grundfinanzierung heraus trägt dazu bei, die Freiheit der Forschung in Deutschland zu vergrößern, denn sie ist dann weniger abhängig von Förderformaten und Themenvorgaben, die zuvor von staatlicher oder Stiftungsseite fixiert wurden. Ein leuchtendes Beispiel stellt hierfür die Max-Planck-Gesellschaft dar, die mit einer freien Forschung auf der Basis einer sicheren Grundfinanzierung herausragende Ergebnisse erzielt. Die wertvolle Arbeitszeit, die zuvor für das ständige Schreiben von Anträgen ineffizient verschwendet wurde, kann nun in die Forschung selbst investiert werden. Die neuen Strukturen steigern so auch signifikant die Leistungsfähigkeit des Mittelbaupersonals, das nicht unter Existenzdruck immer wieder aufs Neue die Mittel für seine eigene Stelle einwerben muss.
Da nahezu alle politisch Verantwortlichen erkannt haben, dass tiefgreifende Reformen geboten sind, arbeiten sie konzentriert, sach- und problemlösungsorientiert zusammen und bringen die entsprechenden gesetzlichen Regelungen und etwaige Verfassungsänderungen zeitnah auf den Weg. Bund und Länder ziehen an einem Strang, da alle wissen, dass beide Seiten aufeinander angewiesen sind. Sie stellen Partei- und Partikularinteressen hintenan und sind entschlossen, die Voraussetzungen für moderne, gerechte und bedarfsadäquate Personal- und Finanzierungsstrukturen an den Universitäten zu schaffen, um damit ihre Leistungsfähigkeit, ihre Attraktivität als Arbeitgeber sowie ihre Autonomie zu verbessern und so die Freiheit und Qualität von Lehre, Forschung und akademischer Selbstverwaltung langfristig zu stärken.
Was würdest/würden Du/Sie gerne in einer optimalen Geschichtswissenschaft auf die Beine stellen? Warum geht das gegenwärtig nicht und was müsste man ändern?
Ich glaube, dass eine derart umstrukturierte Geschichtswissenschaft sowohl die Qualität von Forschung und Lehre steigern als auch ihr kritisches Potential und ihre öffentliche Sichtbarkeit und Relevanz verbessern kann. Die Forschung hängt dann nicht mehr von den verfügbaren Drittmittelformaten mit ihren begrenzten Laufzeiten, Vorgaben, Antragskonventionen und Gutachterwartungen ab, sondern gibt unkonventionellen und weniger stromlinienförmigen Themen und Designs größeren Raum. Die Lehre gewinnt an Attraktivität für diejenigen, die sich in diesem Bereich spezialisieren und Aufstiegsmöglichkeiten realisieren möchten. Die Kontinuität in der Betreuung der Studierenden verbessert sich, da weniger Professor:innen wegen extensiver Drittmittelaktivitäten beurlaubt sind und das übrige und in der Summe erfahrenere Personal dauerhaft verfügbar ist. Schließlich vermag die Geschichtswissenschaft, die sich zumeist auf eine allgemeine Orientierungsfunktion gegenüber der Öffentlichkeit beruft, ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Kritik besser auszuschöpfen. Jürgen Kocka hat das vor fast fünfzig Jahren so auf den Punkt gebracht:
„Indem sie die soziale und politische Gegenwart in ihrem Gewordensein und damit in ihrer Wandlungsfähigkeit – d.h. aber in ihrer prinzipiellen Veränderbarkeit – zeigen, können [die Geschichtswissenschaften] dazu beitragen, eine Haltung zu erzeugen, die die massiv und sachzwangartig uns entgegentretende Wirklichkeit nicht in ihrer scheinbaren Notwendigkeit akzeptiert, sondern auf dem Hintergrund ihrer genutzten und versäumten, vergangenen und vielleicht noch bestehenden Möglichkeiten begreift. [...] Im Lichte historischer Alternativen gerät die gegenwärtige Wirklichkeit unter Legitimationszwang und gegebenenfalls in die Auseinandersetzung mit auf Veränderung drängender Kritik.“[3]
Die gegenwärtigen Strukturen befördern unter den Nicht-Professor:innen ein angepasstes Verhalten. Die neuen Strukturen hingegen können auch im nicht-professoralen Personal, das nun aus unabhängiger und sozial gesicherter Position heraus agiert, die Bereitschaft und den Mut fördern, in fachlichen und öffentlichen Diskussionen das kritische Potential der Geschichtswissenschaft zur Geltung zu bringen.